Kishōtenketsu - die japanische 4-Akt Struktur

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  • Araluen
    Moderator
    • 04.09.2023
    • 226

    Kishōtenketsu - die japanische 4-Akt Struktur

    Hallo ihr Lieben,
    heute möchte ich euch eine Erzählstruktur vorstellen, die sich stark von der uns so vertrauten 3-Akt Struktur unterscheidet - Kishōtenketsu. Ursprünglich aus China stammend entwickelten die Japaner eine besondere Vorliebe für diese Art des Geschichtenerzählens. Nun denkt man sich vielleicht: Ja gut, dann sind es eben vier und nicht drei Akte, was soll's? Aber so einfach ist es nicht. Um Kishōtenketsu zu verstehen, werde ich mit einem kleinen Exkurs zur Erzählkultur starten.

    Westliche Erzählkultur
    Die 3-Akt Struktur ist uns so vertraut, dass wir kaum darüber nachdenken. Zurückzuführen ist diese Art des Geschichten Erzählens vor allem auf der Literatur der alten Griechen wie Homer und Aristoteles, deren literarische Philosophie auf den Prinzipien des Stoizismus und der Romantik basieren.
    Was heißt das?
    Laut der Stoa bedeutet das Leben Leiden, welches ohne Klage ertragen werden sollte, um über sich selbst hinaus zu wachsen und zu Selbsterkenntnis zu gelangen.
    Die Romantik ist eine Weltanschauung, welche die Betonung auf die Vorherrschaft des Einzelnen legt. Jeder ist seines Glückes Schmied und sollte mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln versuchen dieses zu erreichen.
    Nach diesen Vorstellungen hat der Mensch das Recht die Welt nach seinem Willen zu gestalten und das, was er aufgebaut hat, gegen alle Widrigkeiten zu verteidigen - der Stoff aus dem Helden gemacht sind: Der Held zieht aus, stürmt die Burg, erschlägt den Drachen und erobert die Prinzessin.

    Japanische Erzählkultur
    Der Fokus liegt nicht auf den Heldentaten des Einzelnen, sondern auf Harmonie und dem Willen die Familie und Gemeinschaft nicht zu beschämen. Jeder einzelne ist ein Teil des großen Ganzen, dem er sich unterzuordnen hat. Man tut etwas nicht, weil es richtig ist oder funktioniert, sondern weil die Gemeinschaft dies tut oder einfordert. Andernfalls würde man Schande über die Gemeinschaft bringen. Die Welt wird hier nicht als Preis gesehen, den es zu erobern gilt und dem Willen des Einzelnen unterworfen wird. Stattdessen unterwirft die Welt mit ihrem Willen die Menschen. Der Einzelne hat keine Wahl und der Kampf dagegen bringt nur Schande über die Gemeinschaft.
    Diese Philosophie prägt die japanische Kultur und ihre Art Geschichten zu erzählen. Während in westlichen Geschichten der Protagonist seine Welt verändert, ist es in japanischen Geschichten die Welt, welche den Protagonisten beeinflusst und vor sich her treibt. Dem Protagonisten bleibt nur zu reagieren und mit der neuen Situation klar zu kommen.

    Was macht Kishōtenketsu​ aus?
    Kishōtenketsu​ ist ein Prozess, kein Ziel.
    Westlich erzählte Geschichten versuchen zielgenau Plotpunkte zu treffen. Bei einem gut geschriebenen 120 Minuten Blockbuster kann man auf eine beliebige Minutenzahl vorspulen und direkt den entsprechenden Plotpunkt zuordnen. Das gleiche funktioniert auch bei vielen Romanen. Geschichten erzählt nach Kishōtenketsu​ sind da etwas schwammiger. Kishōtenketsu​ spielt mit der Erwartung der Leser. Es geht darum, den Protagonisten durch einen Entdeckungsprozess zu führen, sodass der Leser ständig wissen will, wie es nun weitergeht.
    In Kishōtenketsu​ geht es nicht darum Konflikte zu überwinden. Stattdessen wird die Welt des Protagonisten durcheinander gebracht, um zu beobachten, wie der Protagonist darauf reagiert.
    Während westliche Geschichten von den Wünschen, Zielen und der Motivation des Protagonisten vorran getrieben werden, wird bei Kishōtenketsu die Geschichte oft vom Antagonisten und seinen Zielen bestimmt. Die Motivation des Protagonisten spielt nur eine untergeordnete Rolle. Wichtiger ist, wie er auf den von außen ausgeübten Druck reagiert.

    Die Vier Akte
    Ki (umfasst 12,5% der Geschichte): Einleitung - der Protagonist und sein Alltag werden vorgestellt

    Shō​ (umfasst 50% der Geschichte): Entwicklung - der Protagonist wird weiter charakterisiert und das Worldbuilding vertieft. Es besteht ein großer Unterschied zum zweiten Akt der 3-Akt Struktur. In der 3-Akt Struktur steht der Moment, der die Richtung der Geschichte verändert (Inciting Incident) am Anfang des zweiten Aktes - der Protagonist verlässt seine vertraute Welt und stürzt sich ins Abenteuer. Im Kishōtenketsu​ liegt dieser Moment am Ende des zweiten Akten bzw. zu Beginn des dritten Aktes.

    Ten (umfasst 25% der Geschichte): Twist - eine überraschende Wendung, die alles, was bisher geschah, in Frage und auf den Kopf stellt. Es ist der Moment, bei dem die Geschichte eine andere Richtung einschlägt. Denkt groß in diesem Akt. Fragt euch, was die größtmögliche Wendung in diesem Moment sein könnte und legt noch eine Schippe drauf.

    Ketsu (umfasst 12,5% der Geschichte): Abschluss - Die Figuren müssen das, wofür sie in den ersten beiden Akten standen mit der schockierenden Enthüllung im dritten Akt in Einklang bringen und sich damit auseinander setzen, was sie gelernt haben. Es geht nicht zwangsläufig darum, dass der Protagonist den Tag rettet. Tatsächlich ist das eher untypisch für traditionelles Kishōtenketsu​. Stattdessen muss der Protagonist damit klar kommen, was geschehen ist. Es ist üblich den Protagonisten in einem Gefühl der Spannung zurück zu lassen und nicht alle Handlungsfäden aufzulösen. Das wirkt auf westliche Leser oft recht unbefriedigend. Oft endet Ketsu mit einer Moral, ähnlich den antiken Fabeln oder hebt die Tugenden hervor, die das zentrale Thema der Geschichte waren.

    Beispiele
    Im Folgenden habe ich noch drei Beispiele für euch, um Kishōtenketsu​ etwas greifbarer zu machen. Denn Kishōtenketsu​ ist auch in unseren Breiten gar nicht mehr so exotisch, wie man annehmen möchte. Mangas und Animes werden sehr häufig nach Kishōtenketsu​ erzählt und so hat diese Erzählstruktur quasi incognito bereits Einzug in unsere Bücherregale gehalten.
    Großer Spoileralarm natürlich an dieser Stelle

    Your Name - Anime
    Spoiler: Text anzeigen/verbergen
    Ki: Vorgestellt werden die in einer Kleinstadt lebende Oberschülerin Mitsuha und Taki, ein Oberschüler aus Tokio.
    Shō: Mitsuha und Taki wechseln mehrmals die Woche in den Körper des anderen für einen Tag und greifen in dessen Leben ein, um es besser zu machen. Mit der Zeit lernen sie sich besser kennen und hinterlassen sich gegenseitig kleine Botschaften.
    Ten: Taki will Mitsuha endlich persönlich treffen, nachdem der Körpertausch einige Zeit nicht mehr stattfand, und fährt zu ihrem Wohnort. Dort stellt er fest, dass dieser bereits vor drei Jahren von einem Meteoriten völlig zerstört wurde. Takis und Mitsuhas Zeitlinie war von Anfang an asynchron. Er will noch ein letztes Mal einen Körpertausch erzwingen. Als ihm das gelingt, schafft er es dafür zu sorgen, dass Mitsuhas Dorf rechtzeitig evakuiert wird. Im Gegenzug verblasst aber die Erinnerung an den jeweils anderen
    Ketsu: Acht jahre später zeigt sich, dass tatsächlich alle bewohner aus Mitsuhas Dorf gerettet werden konnten. Taki und Mitsuha, die in zwei Zügen reisen, erblicken sich durchs Fenster, als die Züge aneinander vorbei fahren. Sie steigen aus und laufen zurück, um sich wieder zu finden. Am Ende treffen sie sich auf einer Treppe und fragen einander aus einem Gefühl der Vertrautheit heraus nach ihren Namen.​


    The promised Neverland - Anime, Folge 1
    Spoiler: Text anzeigen/verbergen
    Ki: Vorgestellt werden die Kinder Emma, Norman und Ray, die im Waisenhaus "Grace Field House" leben, das sie nicht verlassen dürfen, weil draußen Gefahr lauert.
    Shō: Die Kinder vom Grace Field House weren von ihrer Pflegemutter Isabella liebevoll umsorgt und die Kinder führen ein schönes und behütetes Leben. Mit 12 Jahren werden die Kinder stets adoptiert und die elfjährige Emma freut sich schon auf ihren Geburtstag.
    Ten: Die Kinder finden heraus, dass sie nicht adoptiert werden, sondern getötet. Sie leben nicht in einem Waisenhaus sondern auf einer Farm, wo Menschen als Delikattesse für monsterartige Wesen gezüchtet werden.
    Ketsu: Die Kinder beschließen zu fliehen, bevor Emma als nächstes abgeholt wird.​


    Ah My Goddes - Anime, Folge 1
    Spoiler: Text anzeigen/verbergen
    Ki: Der Student Keichi und sein alltägliches Leben wird vorgestellt
    Shō: Keichi wird durch seinen Alltag begleitet. er ist ein erfolgloser Pechvogel, der oft ausgenutzt wird und gerne eine Freundin hätte
    Ten: Weil Keichi einem kleinen Mädchen geholfen hat, erscheint ihm die Götting Beldandi und bietet ihm an, ihm einen Wunsch zu erfüllen
    Ketsu: Keichi ist völlig überwältigt und überfordert von dem Erscheinen der Göttin​


    Kishōtenketsu für Nebencharaktere in der westlichen 3-Akt Struktur
    Eine interessante Anwendung von Kishōtenketsu​ ist es, den Plot von Nebenfiguren als Kishōtenketsu​ zu verstehen. Die Kraft, welche die Nebenfiguren durch die Geschichte treibt, ist in diesem Fall der Protagonist und den Nebenfiguren bleibt in der Regel nicht viel anderes übrig, als auf die neu entstehenden Umstände zu reagieren.

    So, das war es erst einmal von mir. Wie sieht es bei euch aus? Habt ihr schon einmal von Kishōtenketsu​ gehört oder eine Geschichte auf diese Art geschrieben? Wie sind eure Erfahrungen?
    Zuletzt geändert von Araluen; 06.09.2023, 13:13.
  • Aidan
    Moderator
    • 03.09.2023
    • 249

    #2
    Spannend! Ich habe mir früher nie Gedanken gemacht, wie unterschiedlich die Grundstrukturen der Geschichten in unterschiedlichen Kulturen sind, das erste Mal bin ich bewusst darüber gestolpert, als ich eine chinesische Serie geschaut habe. Fand ich ausgesprochen interessant, aber ich habe die Unterschiede nie analysiert. Aber ich finde, da steckt unglaublich viel Potential drin, bewusst mit diesen unterschiedlichen Erzählstrukturen zu spielen und sie zu kombinieren. Wobei ich da sehr intuitiv unterwegs bin, aber das grundsätzliche Wissen darüber verändert ja schon unbewusst ganz viel, was sich dann intuitiv einbauen lässt.

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    • Federstreich
      Redakteur
      • 15.09.2023
      • 89

      #3
      Ich konnte mir beim Lesen erst einmal wenig unter dieser Struktur vorstellen. Jetzt habe ich gerade "Meine ganz besondere Hochzeit" geschaut. Ein unheimlich schöner Anime. Und ich glaube, dass ich die Struktur nun besser begreife. Sie ist weniger plotgetrieben, sondern das Verhalten sorgt dafür, dass die Geschichte sich entwickelt. Trotzdem kann es zu actionreichen Szenen kommen, weil unterschiedliche Peronen auf unterschiedliche Weise reagieren. Das war beim Lesen zuerst mein Gedanke. "Wie soll da etwas passieren?" Aber doch, das geht. Finde ich jetzt richtig spannend und will ich nach Möglichkeit wenigstens etwas mehr in meinen Projekten zukünftig beachten.

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      • Araluen
        Moderator
        • 04.09.2023
        • 226

        #4
        @Aidan: Ich fand es auch sehr spannend, wie unterschiedlich die Art des Erzählens doch ist einfach basierend auf kulturellen Unterschieden.

        @Federstreich: Mir ging es da wie dir. Ich habe Artikel dazu gelesen und mich gefragt, wie das funktionieren soll. Ich habe mir die Beispiele durchgelesen (die ich auch hier gebracht habe) und mich immernoch gefragt, wie eine Geschichte ohne Konflikte funktionieren soll. Und dann habe ich mir die erste Folge von the promised Neverland angeschaut und bewusst drauf geachtet. Plötzlich hat es Klick gemacht und auch bei anderen Manga und Anime, die ich kenne fielen mir plötzlich so viele Parallelen ein.

        Also ich glaub, dass es für einen Westeuropäer im ersten Augenblick wirklich schwer zu verstehen ist. Aber diese Erzählmethode bietet echt viele Möglichkeiten. Interessant fand ich vor allem die Idee, Kishotenketsu für Nebenfiguren in einem westlichen 3-Akter zu verwenden. Ich glaube, das gibt den Nebenfiguren deutlich mehr Dynamik, ohne sie mit eigenen Konflikten aufzublähen.

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        • Yamuri
          Kaffeejunkie
          • 04.09.2023
          • 337

          #5
          Wenn ich mir die Videos ansehe, dann komme ich zu der These, dass meine Geschichten eher dem Bild des Kishōtenketsu entsprechen. Zumindest finde ich die Aspekte, die Calamus Press anspricht in meinen Texten wieder, im übertragenen Sinn. Also mich erinnert meine Vorgehensweise und Struktur daran.

          Ich glaube auch, dass "Geschichte ohne Konflikt" die falsche Ausdrucksweise dafür ist. Der Konflikt ist nur nicht zwingend etwas, das mit viel Action und Getöse einhergeht, sondern sich im Hadern, Zaudern und der Unsicherheit einer Figur widerspiegeln kann, die mit äußeren Veränderungen klar kommen muss ohne sich dabei selbst zu verlieren. Es kann zwar auch einen äußeren Konflikt geben, muss aber nicht.

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          • Araluen
            Moderator
            • 04.09.2023
            • 226

            #6
            Konflikte entstehen, weil der Protagonist Wünsche und Ziele hat, sich ihm aber Hindernisse in den Weg stellen, wenn er versucht diese zu erreichen. Die müssen nicht laut und voller Action sein. Es gibt ja auch sehr stille Romane, die trotzdem voller Konflikte sind.
            Die Wünsche und Ziele des Protas sind im Kishōtenketsu aber gar nicht der zentrale Punkt der Geschichte im Gegensatz zur westlichen 3-Akt-Struktur. Daher mag es auch hier Konflikte geben, aber sie sind nicht das, was die Geschichte vorran treiben. Genau genommen treibt die Geschichte im Kishōtenketsu den Protagonisten vor sich her und er muss aufpassen, dass er nicht hinfällt.
            In der westlichen 3-Akt Struktur kriegt der Protagonist einen gut gemeinten Schubs und rennt dann selbst los, um die Geschichte vor sich herzutreiben.
            Und ich glaube das ist damit gemeint, wenn gesagt wird, dass Kishōtenketsu ohne Konflikte auskommt.

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            • Yamuri
              Kaffeejunkie
              • 04.09.2023
              • 337

              #7
              Das hast du sehr schön ausgedrückt Und ich habe das Gefühl, dass bei mir die Geschichte der Antrieb ist und die äußere Verstrickung, weniger die Wünsche und Ziele der Protas, auch wenn sie durchaus Ziele haben und Wünsche. Es fällt mir aber schwer das zu beurteilen. Du hast ja z.B. Band 1 meiner Science-Fantasy Reihe zum Teil gelesen. Würdest du aus deinem außenstehenderen Blickwinkel sagen, das Projekt geht in die Richtung oder wirkt es eher westlich auf dich? Ich tue mir selbst schwer es zu beurteilen, habe aber den Eindruck es hat Züge der fernöstlichen Vorgangsweise.

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              • Araluen
                Moderator
                • 04.09.2023
                • 226

                #8
                Kommt bei Shar'dag tatsächlich auf die Perspektivträger an. Die Brüder agieren in einer westlichen 3-Akt-Struktur und gestalten die Geschichte durch ihre Handlungen. Harun hingegen wird von der Geschichte vor sich hergetrieben. Insgesamt würde ich Shar'dag eher als westlichen 3-Akter sehen und Harun dabei als starke Nebenfigur, deren Geschichte als Kishōtenketsu erzählt wird. Die eigentlichen Protagonisten sind ja auch tatsächlich die Brüder, auch wenn die Geschichte mit Harun beginnt. Letztlich ist er aber mehr Beobachter der Ereignisse, auch wenn er selbst in sie verstrickt ist sowohl in der Gegenwart als auch Vergangenheit.

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                • Yamuri
                  Kaffeejunkie
                  • 04.09.2023
                  • 337

                  #9
                  Inzwischen beginnt die Geschichte mit den Brüdern. Das hab ich in der neuen Version geändert, weil ich den Leser sonst zu stark auf die Fährte Krimi führe.

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