Ich - Du - Er - Sie - Es – Mitten im Geschehen oder Stratege mit Überblick ?

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  • Niam
    Redakteur
    • 05.09.2023
    • 86

    Ich - Du - Er - Sie - Es – Mitten im Geschehen oder Stratege mit Überblick ?

    ICH schreibe eine Geschichte , DU gibtst Vorschläge dazu ab , ER prüft den Text auf grobe Fehler , SIE liest Korrektur und ES meckert .

    Es hat wohl jeder Autor, so wie auch jeder Leser seine Vorlieben und seine begründete Meinung, wenn es darum geht, aus welcher Sicht ein Buch geschrieben sein solte. Die Geschmäcker sind ja glücklicherweise verschieden, sodass sich die Autoren in jede Richtung frei entfalten und die Leser aus einer großen Menge an neuem "Lesefutter" wählen können.

    Viele bevorzugen die, in den letzten Jahren immer populärer gewordenen Geschichten in der „Ich-Form“. Dies wird oft damit begründet, dass sich die Leser besser und viel intensiver in die Gefühlswelt der Hauptfigur einklinken können und dadurch besser in das Buchgeschehen eingebunden werden. Vor allem lassen sich so die Ereignisse, Entscheidungen der Figur und deren Folgen quasi am „eigenen Leib“ miterleben.

    In einigen Büchern wechseln sich dabei manchmal auch zwei oder auch mehrere Figuren in der 1. Person ab. Oftmals wird auch in einem Mix geschrieben in dem eine Figur dauerhaft in „Ich“ schreibt, während die anderen Personen in der Geschichte durchgehend in der 3. Person entweder aus der Sicht des „allwissenden Erzählers“ oder auch „personenlastig“ aufscheinen.

    Die „Du“ Form ist mir in der Belletristik bisher nur einmal begegnet, bei Sachbüchern oder auch Kinder(sach)büchern kommt das allerdings öfters vor, und - bei der angepeilten Zielgruppe - üblicherweise auch ganz gut an.

    Ich selbst gehöre eher zu den „altmodischeren“ Lesern und bevorzuge die 3. Person, egal ob als allwissender Erzähler oder aus Sicht einer oder mehrerer Personen geschrieben.
    Zugegeben, es gibt einige wirklich tolle Bücher, die in der 1. Person verfasst sind und die mich sehr beeindruckt haben, weil das Thema mit der Sichtweise und der Wortwahl wunderbar harmoniert hat, nur waren es für mich eher die Ausnahmen. Habe ich die Wahl, greife ich jedoch mit Sicherheit zuerst zu Geschichten mit „Er-Sie-Es“.

    Bei der Erzählweise in der 3. Person, kann aus der Sicht des „allwissenden Erzählers“ geschrieben, oder die Aufmerksamkeit auch einer speziellen Figur
    bzw. durchaus auch mehreren Personen zugewandt sein und so der Schwerpunkt der Szenen auf "dem" oder "den" jeweiligen Protagonisten liegen.

    Egal ob in der 1., 2., 3. Person geschrieben wird - jede dieser Erzähl- und Sichtweise Vorteile aber auch Beschränkungen, und jeder Autor und Leser seine Vorlieben.
    Daher bin ich echt gespannt, wie ihr das seht und mir sind dazu natürlich wieder einmal einige Fragen durch den Kopf gegangen, die ich hier stellen möchte.

    - „Ich-Du-Er/Sie/Es“ - Welche Sichtweise bevorzugt ihr selbst beim Schreiben oder habt ihr da keine Vorlieben, sondern es kommt eher auf die Geschichte an?
    - Habt ihr schon einmal unter dem Schreiben die Sichtweise (von „Ich“ in „Er/Sie/Es“ oder umgekehrt) geändert oder eine andere Sichtweise „eingeschoben“, weil es sich nach und nach herauskristallisiert hat, dass es so einfach viel harmonischer „rüber kommt“ und viel besser passt oder kommen solche Überlegungen beim Schreiben nicht vor.?
    - Bevorzugt ihr Storys in der gleichen Sichtweise in der ihr schreibt, oder habt ihr da keine Vorlieben?
    - Findet ihr es gut wenn in einer Geschichte alle Hauptfiguren jeweils aus ihrer eigenen Sicht in der „Ich-Form“ auftreten, oder findet ihr das verwirrend? (Hier ist es vermutlich hilfreich, wenn die Formatierung unterschiedlich ist, je nachdem wer gerade „am Zug“ ist oder, dass die Figuren Kapitelweise wechseln.)
    - Haltet ihr es für einen nützlichen Kniff, wenn in einem Roman z.B. der Protagonist/Antagonist in der 1. Person auftritt, während die anderen Figuren in der 3. Person erzählt werden?
    - Allwissender Erzähler, oder eher auf eine Figur konzentriert– Was spricht euch persönlich mehr an und warum?

    Ich Du Er/Sie/Es Welche Tipps und Tricks frisch aus der Erfahrungskiste habt ihr diesmal für uns?
    Zuletzt geändert von Niam; 01.03.2024, 09:16.
  • Michael W
    Kaffeetrinker
    • 04.09.2023
    • 68

    #2
    Es gibt so viele verschiedene Erzählperspektiven, davon ist die Auswahl bezüglich Ich-Du-Er/Sie/Es nur ein Element. Maßgebend ist auch, wer die Geschichte überhaupt erzählt, wie oder ob diese Figur am Geschehen beteiligt ist, ob die Geschehnisse rückblickend oder "live" erzählt werden, worauf der Fokus gelegt wird und so weiter.

    Die Ich-Perspektive gefällt mir in letzter Zeit immer besser, eben wegen dieser Nähe zur Figur. Funktioniert beim Schreiben und auch Lesen daher umso besser, je mehr ich mich mit dieser Figur identifizieren kann. Lässt sich perfekt mit Beschreibungen von Sinneseindrücken kombinieren.

    Die 3. Person finde ich dann besser, wenn aus der Sicht einer Figur erzählt wird, die ziemlich anders denkt. Das kann auch der Antagonist sein. Die 3. Person ist vielseitig und fast immer anwendbar, aber nicht immer die beste Möglichkeit.

    Bei der Du-Perspektive ist ganz entscheidend, wer mit dem "Du" gemeint ist. Bin ich als Leser gemeint, funktioniert sie ideal in Spielbüchern, in denen man selbst entscheiden kann, wo man weiterliest. In diesem Fall wäre eine andere Perspektive nur irritierend.
    Wenn eine der Figuren aus der Geschichte gemeint ist, erzeugt die Du-Perspektive viel Distanz zum Lesenden. So entsteht etwa der Effekt, mit viel Abstand in das Leben einer fremden Person hineinzuschauen. Ein ganzes Buch würde ich so nicht lesen, aber ich habe das schon in Kurzgeschichten gesehen.

    Kommentar

    • Aidan
      Moderator
      • 03.09.2023
      • 266

      #3
      Wieder einmal eine spannende Frage, die du stellst Niam

      - „Ich-Du-Er/Sie/Es“ - Welche Sichtweise bevorzugt ihr selbst beim Schreiben oder habt ihr da keine Vorlieben, sondern es kommt eher auf die Geschichte an?
      Ich bin Fan der dritten Person. Beim Schreiben wie beim Lesen. Ja, ich habe auch vereinzelt mal ein Projekt für die Ich-Perspektive, aber das ist schon für mich sehr besonders und ich habe noch keines von ihnen geschrieben, nur im Kopf.

      - Habt ihr schon einmal unter dem Schreiben die Sichtweise (von „Ich“ in „Er/Sie/Es“ oder umgekehrt) geändert oder eine andere Sichtweise „eingeschoben“, weil es sich nach und nach herauskristallisiert hat, dass es so einfach viel harmonischer „rüber kommt“ und viel besser passt oder kommen solche Überlegungen beim Schreiben nicht vor.?
      Ich glaube nicht. Wenn ist das schon lange her.

      - Bevorzugt ihr Storys in der gleichen Sichtweise in der ihr schreibt, oder habt ihr da keine Vorlieben?
      Ja. Ich-Perspektive lese ich nicht gerne, wobei ich gerade eine ganze Reihe bekommen habe, die in Ich-Perspektive geschrieben ist, mal gucken, ob ich damit zurecht komme. Was ich überhaupt nicht mag ist Ich-Perspektive und Präsenz. Ich finde auch nicht, dass man mit der Ich-Perspektive wirklich näher an die Figur kommt, wie mit der dritten Person. Die erste Person läuft für mich eher Gefahr, dass mir die Sicht der Figur zu aufgedrückt vorkommt - ich mag gerne ein klein wenig Spiel für meine eigenen Gedanken dazu haben. Ich muss ja die Welt nicht so sehen, wie die erzählende Figur.

      - Findet ihr es gut wenn in einer Geschichte alle Hauptfiguren jeweils aus ihrer eigenen Sicht in der „Ich-Form“ auftreten, oder findet ihr das verwirrend? (Hier ist es vermutlich hilfreich, wenn die Formatierung unterschiedlich ist, je nachdem wer gerade „am Zug“ ist oder, dass die Figuren Kapitelweise wechseln.)
      Ich habe schon sehr lange keine Ich-Perspektive mehr gelesen - ich vermute, es würde mich verwirren, wenn das nicht ganz klar gekennzeichnet ist.

      - Haltet ihr es für einen nützlichen Kniff, wenn in einem Roman z.B. der Protagonist/Antagonist in der 1. Person auftritt, während die anderen Figuren in der 3. Person erzählt werden?
      Puh... gibt es das? Ich kann mir nicht so recht vorstellen, dass mir das gefallen würde.

      - Allwissender Erzähler, oder eher auf eine Figur konzentriert– Was spricht euch persönlich mehr an und warum?

      Ich mag beides. Früher, vor meiner langen Pause, war ich mehr beim allwissenden Erzähler, inzwischen bin ich eher figurenkonzentriert. Und ich liebe es, zwei Perspektiventräger zu haben.

      Kommentar

      • Araluen
        Moderator
        • 04.09.2023
        • 245

        #4
        Ich-Perspektive ist in meinen Augen eine der schwierigen Perspektiven. Auf den ersten Blick erscheint sie leicht, weil man die Figur einfach reden lassen kann. Doch sie bietet viele Fallstricke.
        Zum Einen kann man sehr leicht in die Falle tappen, ins Schwafeln zu geraten. Der innere Monolog des Perspektivträgers ist die ganze Zeit angeschaltet und es kann sehr leicht passieren, dass sich die Gedanken des Protagonisten anfangen im Kreis zu drehen und man als Autor da gar nicht mehr raus kommt.
        Zum Anderen muss man sich als Autor voll und ganz in den Protagonisten hinein versetzen. Die Stimme des Autors darf nie zu hören sein. Das ist in meinen Augen der schwierigste Part und ich habe bisher nur selten wirklich überzeugende Ich-Perspektiven gelesen. Oft klingen Ich-Erzähler eines Autors in verschiedenen Geschichten alle gleich, obwohl sie vom Charakter her völlig unterschiedlich sind. Besonders auffällig ist es in Geschichten mit mehreren Ich-Perspektiven. Richtig gut gemacht, weiß der Leser allein beim Lesen der ersten Sätze, welcher Perspektivträger gerade dran ist, ohne dass darauf hingewiesen wird. Das gelingt nur den allerwenigsten.
        Dann darf man nicht vergessen, dass man in der Ich-Perspektive auch sehr eingeschränkt ist. Zwar hat man maximalen Einblick in die Innensicht der Figur, im Gegenzug hat man aber auch nur minimalen Einblick in die Welt und alle Zusammenhänge. Daher eignet sich die Ich-Perspektive für mich in High-Fantasy z.B. überhaupt nicht. Da wäre ja gar kein Platz fürs Worldbuilding. Was der PErspektivträger nicht weiß, kann er nicht erklären. Was er weiß, wird er nicht erklären, denn warum sollte er darüber nachdenken? Zeit für "Landschaftsaufnahmen" ist auch nicht, außer der Protagonist nimmt sich explizit Zeit, sich mal irgendwo hinzustellen und in die Welt zu schauen.
        Wo sie sich gut eignet ist oft Urban Fantasy vor allem, wenn der Protagonist die geheime magische Welt gerade erst entdeckt. Dann kann der Leser dies gemeinsam mit dem Protagonisten tun und dann stört es auch nicht, wenn man nicht immer alles über die magische Welt weiß oder sie ausführlich vorgestellt kriegt. Denn man ist von Anfang an auf dem gleichen Wissensstand wie der Protagonist. Anders ist das für mich, wenn der Protagonist die magische Welt bereits kennt. er hat dann Infos, die ich als Leser nicht habe, für die er aber auch keinen Grund hat, sie zu erklären. Würde der Protagonist an dieser Stelle mir das Magiesystem erklären, würde ich ihm das übrigens genauso übel nehmen wie ein Schweigen. Erklärbaren sind niemals gut.

        Du-Perspektive kenne ich bisher tatsächlich nur aus Spielbüchern und Erotik. In Spielbüchern wird der Leser direkt angesprochen, weil er die Entscheidungen darüber trifft, wie die Geschichte weitergeht. In Erotika ist es ähnlich aber nicht zwangsläufig. Der Leser hat an dieser Stelle quasi die Wahl, ob er sich selbst in der Position des Protagonisten sehen möchte oder ob er einem Protagonisten "zusehen" möchte, der mit du angesprochen wird. Beides ist in diesen Geschichten möglich und erzeugen ein sehr intensives Erlebnis. Der Leser hat aber keine Entscheidungsgewalt über den Verlauf der Geschichte, sondern gibt alle Entscheidungskraft an den Erzähler ab. Ich könnte mir das noch sehr gut im Krimi- oder Thrillerbereich vorstellen aus der Perspektive eines Zeugen oder Tatverdächtigen z.B., der mit du angesprochen wird. Es ist auf jeden Fall sehr experimentell und ich bin mir nicht sicher, ob das für Romane gut machbar oder sagen wir dem Leser zumutbar ist oder besser in Kurzgeschichten aufgehoben ist.

        Personaler Erzähler in der dritten Person: Das ist sowohl beim Lesen und Schreiben meine favorisierte Perspektive. Hier kann man auch gut mit Nähe und Distanz spielen. Der Erzähler kann quasi der Protagonist sein oder ein begleitender Chronist (der entweder selbst in der Geschichte auftaucht oder unsichtbar bleibt) oder er kann allwissend über allem schweben. Ich mag die Beweglichkeit dieser Perspektive, wahre aber gerne eine leichte Distanz zum Protagonisten. Ich setze den Protagonisten eigentlich nie mit dem Erzähler gleich. In der Regel äußert sich das mit direkten Gedanken im Stil wörtlicher Rede des Protagonisten. Ich schreibe lieber einen Erzähler, der ein begleitender Schatten ist, die Gedanken des Protagonisten kennt, sich aber auch von ihm entfernen kann und so beweglich bleibt. Ich verzichte lieber auf ein bisschen Innensicht und habe dafür einen besseren Überblick über das große Ganze. Wenn ich den Erzähler mit dem Protagonisten gleichsetze, kann ich auch gleich die Ich-Perspektive wählen in meinen Augen. Bei aller Beweglichkeit braucht der Erzähler hier aber einen festgelegten Radius, aus dem er nicht nach Belieben herausporten darf und in dem er sich organisch bewegen sollte (also nicht wild hin und her hüpfen).
        Was meine ich damit? Wenn ich mich für die Perspektive von A entscheide, dann kennt mein Erzähler seine Gedanken, begleitet ihn wie ein Schatten und erlebt alles so wie A es erlebt. Nun taucht B mit in der Szene auf. Natürlich kann der Erzähler ein paar Schritte von A zurücktreten, aber er nimmt die Dinge immernoch aus As Perspektive wahr. Das beudetet z.B. dass der Erzähler in direkter Rede nicht als Fakt bestimmen kann, wie sich B fühlt oder warum B etwas tut. Der Erzähler kann wie A nur Vermutungen anstellen. Der Erzähler kann auch Bs Gedanken nicht direkt wiedergeben. Dazu wäre ein Perspektivwechsel nötig, die sauber abgegrenzt werden sollten. Sonst nennt man es Headhopping, was in meinen Augen schlechter Stil ist. Man merkt, acuh wenn diese Perspektive sehr vertraut ist, bietet auch sie zahlreiche Fallstricke.

        „Ich-Du-Er/Sie/Es“ - Welche Sichtweise bevorzugt ihr selbst beim Schreiben oder habt ihr da keine Vorlieben, sondern es kommt eher auf die Geschichte an?
        Ich bevorzuge den personalen Erzähler in der dritten Person, wie oben erwähnt vor allem wegen seiner Beweglichkeit aber gerne auf den Protagonisten fokussiert. Dabei versuche ich mit so wenig Perspektiven wie möglich auszukommen. Bei zu vielen Perspektiven überlege ich eher, ob ein allwissender Erzähler nicht besser ist. Der personale Erzähler baut ein Stück weit auf die Unzuverlässigkeit des Erzählers. Wenn ich 10 Perspektiven habe (überspitzt gesagt) heben sich die Unzuverlässigkeiten der verschiedenen Perspektiven gegenseitig auf und am Ende ist der Leser allwissend.

        Habt ihr schon einmal unter dem Schreiben die Sichtweise (von „Ich“ in „Er/Sie/Es“ oder umgekehrt) geändert oder eine andere Sichtweise „eingeschoben“, weil es sich nach und nach herauskristallisiert hat, dass es so einfach viel harmonischer „rüber kommt“ und viel besser passt oder kommen solche Überlegungen beim Schreiben nicht vor.?
        Ich habe Perspektiven gestrichen, aber noch nie die Art der Perspektive gewechselt. Ich plane ausreichend vor, um zu wissen, in welcher Perspektive ich die Geschichte erzählen will und meist wähle ich eh den personalen Erzähler.

        Bevorzugt ihr Storys in der gleichen Sichtweise in der ihr schreibt, oder habt ihr da keine Vorlieben?
        Ich lese auch hauptsächlich Geschichten in der dritten Person personal. Ich-Perspektive gefällt mir nur selten, a uktorial ist sehr selten geworden und der Rest ist sehr exotisch

        Findet ihr es gut wenn in einer Geschichte alle Hauptfiguren jeweils aus ihrer eigenen Sicht in der „Ich-Form“ auftreten, oder findet ihr das verwirrend? (Hier ist es vermutlich hilfreich, wenn die Formatierung unterschiedlich ist, je nachdem wer gerade „am Zug“ ist oder, dass die Figuren Kapitelweise wechseln.)
        Wenn der Autor es schafft, dass beide Perspektiven einzigartig klingen, gerne. Gerade im Romancebereich kann ich mir das gut vorstellen vom Konzept her. Ehrlicherweise ist mir eine so gut umgesetzte Ich-Perspektive noch nicht untergekommen.

        Haltet ihr es für einen nützlichen Kniff, wenn in einem Roman z.B. der Protagonist/Antagonist in der 1. Person auftritt, während die anderen Figuren in der 3. Person erzählt werden?
        Die Frage ist, wozu die anderen Perspektiven da sind. Entscheide ich mich für die Ich-Perspektive, entscheide ich mich bewusst für eine sehr eingeschränkte Sicht der Umwelt und für eine große Sicht auf die Innenwelt des Charakters. Die Ich-Perspektive ist maximal unzuverlässig. Warum will ich mit diesem Werkzeug brechen, indem ich die Perspektiven anderer Figuren einbringe und dann auch noch in der beweglichen dritten Person? Ich würde das nur sehr sparsam verwenden und mir sehr bewusst darüber sein, warum ich das mache. Denn in meinen Augen gibt man hier mehr aus der Hand als man gewinnt.
        Was ich tatsächlich mal gelesen hatte - es war Lycidas von Marzi - ist ein Erzähler in Ich-Perspektive, der selbst Teil der Handlung ist aber nicht der Protagonist. Im Grunde ist das bei den Sherlock Holmes Geschichten ähnlich. Denn hier erzählt Watson die Geschichte aus seiner Perspektive und Ich-Erzähler, der eigentliche Protagonist ist aber Holmes. Bei Lycidas übernahm der Alchemist Wittgenstein die Rolle des Chronisten und erzählte als Ich-Erzähler die Geschichte von Emily Laying. So aufgezogen macht es durchaus Sinn (der Ich-Erzähler behauptet in diesem Fall in einem Einschub meistens, dass er die Geschehnisse jetzt so wiedergibt, wie Prota sie ihm berichtet hat, weil er als Chronist selbst nicht anwesend war). Es ist aber auch eine sehr spezielle Konstellation. Beim klassischen Ich-Erzähler, der also Erzähler und Protagonist in einer Person ist, sehe ich da wenig Benefit sondern mehr - überspitzt gesagt - den Versuch des Autors zu schummeln, weil er in dieser doch sehr restriktiven Perspektive mehr Außensicht einbringen will.

        Allwissender Erzähler, oder eher auf eine Figur konzentriert– Was spricht euch persönlich mehr an und warum?
        Der allwissende Erzähler ist sehr aus der Mode geraten, weil er trotz oder gerade wegen seiner Allwissenheit sehr auf Distanz bleibt. Natürlich kennt er die Gedanken aller Figuren, aber er entscheidet sehr strategisch, sag ich mal, an welchen er den Leser teilhaben lässt. Der personale Erzähler nimmt an dieser Stelle die Dinge, wie sie kommen, da er das Ende nicht kennt. Der allwissende Erzähler kennt das Ende und entscheidet daraufhin, was der Leser erfahren darf oder muss. Er kann sehr unzuverlässig sein, wenn er will, und ich glaube dieses bewusste hinters Licht führen des Lesers oder zumindest die Möglichkeit dazu ist es, was mich vom allwissenden Erzähler immer etwas wegführt. Außerdem sieht sich der allwissende Erzähler in der Regel als Chronist. Er schreibt/erzählt die Dinge, wie sie passiert sind (und lässt bei Bedarf Details weg), aber er bewertet nicht. Der personale Erzähler bewertet hingegen jeden Aspekt immer aus der Sicht des Perspektivträgers. Das bringt dem Leser den Perspektivträger näher. Beim allwissenden Erzähler ist es, als würden wir einen Film schauen, einen Film ohne Filmmusik, welche die Emotionen unterstreicht. Der personale Erzähler geht tiefer in die emotionale Ebene.
        Hinzu kommt, dass allwissende Erzähler sich oft mehr Zeit beim Erzählen lassen, weil viel mehr Zusammenhänge dargelegt werden können und das Blickfeld einfach weiter ist, während der personale Erzähler in seinem zugedachten Radius an der Kette liegt. Das muss man mögen.
        Ich mag beides beim Lesen und lese gerne auch einmal ältere Romane, wo der allwissende Erzähler noch oft vorkommt. Beim Schreiben bevorzuge ich dann aber doch den personalen Erzähler. Ganz so nüchtern bin ich dann doch nicht.

        @Michael W:
        Die 3. Person finde ich dann besser, wenn aus der Sicht einer Figur erzählt wird, die ziemlich anders denkt. Das kann auch der Antagonist sein.
        Das ist ein guter Punkt, finde ich. Es ist gut, etwas Distanz zum Antagonisten zu wahren. Die Denkweise eines Antagonisten ist in der Regel sehr konträr zur Denkweise eines Lesers oder sollte sie zumindest sein, weil der moralische Kompass den Antagonisten entgegengesetzt zu dem des Protagonisten ausgerichtet ist. Das könnte durchaus irritierend bis verstörend auf einen Leser wirken, gerade wenn ich an Antagonisten aus dem Thrillerbereich denke. Wer will schon wirklich und wahrhaftig im kopf eines Serienmörders stecken?

        @Aidan: Ohja Ich-Perspektive im Präsens ist acuh für mich wirklich schwer erträglich, wobei das Präsens durchaus zur Spannungssteigerung beiträgt. Es ist jederzeit möglich, dass wir den Tod des Protagonisten erleben Wenn der Protagonist rückblickend erzählt eher nicht. Ich mag auch eher diese in ihrer dicke variabel wählbare Grenze zwischen Leser und Protagonist, statt das direkte Eintauchen, was durch die Ich-Perspektive erzwungen wird.​

        Kommentar

        • Niam
          Redakteur
          • 05.09.2023
          • 86

          #5
          Da kommen ja eine Menge an gelebten Erfahrungswerten, persönlichen Vorlieben und fantastischen Erklärungen zusammen. Einfach genial!
          Es ist so toll, dass der Wissens-​ und Erfahrungspool des Schreibcafés mit euren Beiträgen nun immer weiter aufgefüllt und erweitert wird.

          Ein RIESENGROSSES DANKESCHÖN für eure Mühe!

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