Wie "böse" ist zu böse?

Einklappen
X
Einklappen
 
  • Zeit
  • Anzeigen
Alles löschen
neue Beiträge
  • Rhagrim
    Moderator
    • 03.09.2023
    • 388
    • Staring down the Abyss

    Wie "böse" ist zu böse?

    Das ist eine Frage, die mich immer wieder mal ebenso beschäftigt, wie fasziniert: Egal, ob Antagonisten, Nebencharaktere, Antihelden oder auch klassische Helden - Schwächen und Schattenseiten machen sie oft erst so richtig menschlich. Aber oftmals ist es eine feine Grenze zwischen "Schwächen" bzw. "Grauschattierungen", die uns dem Helden näher bringen und es uns ermöglichen, uns besser mit ihm zu identifizieren - und Persönlichkeitsmerkmalen, die ihn für uns total abstoßend machen.

    Was denkt ihr darüber? Wie viel "Grauschattierung" braucht ein Charakter, um für euch interessant zu sein - und im Laufe der Geschichte auch interessant zu bleiben? Welche Eigenschaften, um euch trotz aller Schwächen für ihn einzunehmen? Was wären für euch absolute No Gos, mit denen ein Charakter bei euch jegliche Sympathie verlieren würde - egal, wie sympathisch er vielleicht sonst ist?
    “No tree can grow to Heaven unless it’s roots reach down to Hell.”
    - C.G. Jung
  • Araluen
    Moderator
    • 04.09.2023
    • 226

    #2
    Wie viel "Grauschattierung" braucht ein Charakter, um für euch interessant zu sein - und im Laufe der Geschichte auch interessant zu bleiben?
    Ich brauche nicht zwingend eine Figur, die im Vorfeld bereits durch die Hölle gegangen ist oder ständig ambivalente Entscheidungen trifft, um für mich interessant zu sein. Natürlich muss es Reibungspunkte geben, gerade bei einer Hauptfigur. Es muss einen Grund geben, warum die Hauptfigur diese Geschichte erlebt und nicht der Nachbar.
    Um ein Beispiel zu geben: Judy Hopps aus Zoomania ist für mich eine tolle Hauptfigur. Hat sie in die Abgründe der Psyche geblickt? Nein. Was zeichnet Judy aus? Sie hat ihren eigenen Kopf und will sich nicht an die sozialen Konventionen halten (Hasen arbeiten als Bauern und nicht als Polizisten). Diese Grundhaltung setzt den Plot in Gang und treibt Judy vorwärts und ja ich wollte wissen, ob Judy am Ende eine gefeierte Hasenpolizistin wird oder nicht.
    Wichtig, damit die Figur interessant bleibt ist für mich der stete Prozess, dem sich die Figur unterwirft, aus Entscheidungen, dem Tragen der Konsequenzen und Reflexion. Es ist weniger das Aufdecken wie auch immer gearteter seelischer Abgründe.

    Was ist mir also einer Figur wichtig?
    Ein Hintergrund, der das Handeln der Figur in der Gegenwart/Zeit der Handlung nachvollziehbar macht. Das kann auch ein glückliches und behütetes Leben ohne Schatten sein oder das totale Trauma. Aber es muss sich echt anfühlen.
    Dass die Figur die Konsequenzen ihrer Entscheidungen reflektiert und aufarbeitet.
    Eine Figur braucht einen lebendigen Charakter. Das heißt für mich, dass sich ihr Verhalten je nach Situation ändert im Rahmen des abgesteckten Charakters. Man redet anders mit seinem Vorgesetzten als mit seinen Freunden. Eine super extrovertierte und mutige Person kann plötzlich ganz kleinlaut werden, wenn der Arzt eine Spritze hervorholt oder die Figur plötzlich vor einer Gruppe sprechen muss.
    Dass eine Figur Schwächen hat und diese auch anerkennt. Leider wird ja gerade das aktuell im Hollywoodkino immer mehr zurückgefahren vor allem bei weiblichen Figuren.

    Welche Eigenschaften, um euch trotz aller Schwächen für ihn einzunehmen?
    Das sind eher die kleinen Momente, die mir zeigen, dass eine Figur im Inneren doch ein gutes Wesen ist oder die mir zumindest ein Verständnis dafür geben, wie es mit der Figur so weit kommen konnte.
    Mal wieder ein Serienbeispiel. Seong Gi-Hun aus der Serie Squidgame. Vorgestellt wird er als ein Mann, der mit 30 noch immer bei Mutti wohnt, dieser auf der Tasche liegt, keinen Job hat und nicht einmal den Anstand hat, seine kranke und hart arbeitende Mutter mit Respekt zu behandeln. Als er dann von ihr Geld kriegt, um seiner Tochter was zum Geburtstag zu kaufen, nimmt er das Geld und heimlich die EC-Karte seiner Mutter und geht zur Rennbahn. Dort verzockt er das Geld. So kann er seiner Tochter nur ein Geschenk aus einem Greifautomaten schenken (dass das ein Feuerzeug im Schusswaffendesign ist, ist dann einfach blöd gelaufen) und statt einem Restaurantbesuch kann er ihr nur frittierte Ricecakes (das wohl billigste Fastfood in Korea) an einer Imbissbude spendieren. Gegen seine Ex und ihren neuen Freund kann er auch nicht argumentieren. Er ist also ein totaler Versager und absolut selbstsüchtig. Und doch mag man ihn irgendwie und das zeigt sich in kleinen Momenten. Z.B. als er einer Straßenkatze einen Fisch abgibt. Er liebt seiner Tochter über alles, auch wenn er kein guter Vater ist. Bei den Spielen nimmt er sich der Außenseiter und scheinbar Schwachen an, obwohl er damit auch sein Leben riskiert. Er steht auch absolut treu zu seinem Sandkastenfreund, obwohl das jeder Grundlage entbehrt, wie man als Zuschauer schnell herausfindet. Zu Anfang ist Gi-Hun wirklich kein guter Mensch nach außen hin und trotzdem ist man sich die ganze Zeit sicher, dass er es verdient, heil aus der Sache heraus zu kommen.

    Was wären für euch absolute No Gos, mit denen ein Charakter bei euch jegliche Sympathie verlieren würde - egal, wie sympathisch er vielleicht sonst ist?
    Tatsächlich verspielt eine Figur jede Sympathie bei mir, wenn sie diese Eigenschaften hat, selbst wenn sie eigentlich eine von den Guten ist. Wenn eine Figur unreflektiert durch die Gegend poltert und sich für das Beste hält, was der Welt passieren konnte und damit alles rechtfertigt, was sie tut. Oder wenn eine Figur unreflektiert rumnervt und ständig nur am rumnörgeln ist, wie blöd die Situation doch gerade ist.
    Mein Beispiel: Die Hauptfigur Mary aus "Frau Holles Labyrinth". Mary hat die Fähigkeit Türen zu öffnen und arbeitet daher für einen Schlüsseldienst. Weil das Geld aber knapp ist, lässt sie sich zu einem Einbruch überreden (also angeblich wusste sie initial nicht, dass es um einen Einbruch geht). Um sich weder mit Chef noch Polizei auseinander zu setzen, flüchtet sie zum Geburtstag ihrer Schwester einige hundert Kilometer weiter weg. Die Sache ist nur: Sie versteht sich mit ihrer Schwester mal so gar nicht (weshalb sie nie zu deren Geburtstag kommt) und auch nicht mit ihrer Tante, bei der die Schwester wohnt.
    Und ich saß da und dachte mir: Ja okay, die Tante (sozialkompetent wie ein scharfkantiger Stein) ist jetzt echt niemand mit dem ich verwandt sein möchte. Aber irgendwie hatte Mary in meinen Augen auch nichts anderes verdient. Sie tat nichts, um ihr Tun zu reflektieren. IHR wurde ja nicht gesagt, dass es ein Einbruch war. SIE brauchte ja nunmal das Geld. Der Chef nervt, wenn er JETZT eine Antwort will. Der kann doch einfach mal chillen. Die Schuld an ihrem Fehlverhalten sucht sie also bei anderen und läuft vor ihrer Verantwortung davon (ihren Chef drückt sie weg, als er anruft). Dann passieren Dinge und Mary landet in einer anderen Welt und ist nur am Nörgeln. Ja, die Welt ist kein Paradies, eher das Gegenteil. Aber statt die Sache nun irgendwie anzupacken, ist sie nur am Meckern und Lästern. Gerade das Lästern hatte mir übel aufgestoßen. Da nimmt ein Ehepaar sie unter seinem Dach auf, obwohl es selbst nichts hat, und Mary lästert nur darüber wie komisch die zwei leben, wie schrullig sie sich benehmen und wie eklig das Essen schmeckt.
    Nein, Mary konnte es nicht mehr herausreißen. Am Ende fand ich sogar ihre Schwester Moira sympathischer, obwohl die ein absoluter Narzist ist. Nur, Moira kaufte man ihr Verhalten ab. Es gab einen Grund, dass sie so antisozial ist. Moira bestitzt eine Charm-Aura. Jeder in ihrer Umgebung liebt sie einfach (außer Mary, die ist immun). Es ist also völlig egal, wie sich Moira benimmt, sie wird geliebt. So ergab sich ein authentischer Zirkelschluss in ihrem Verhalten. Ihr Narzismus ist eine Folge der Charm-Aura und ihr antisoziales Verhalten der verzweifelte Versuch endlich einmal eine Gegenreaktion zu bekommen, die aber immer ausbleibt. Ja, das machte Moiras Verhalten nicht besser, aber ich konnte damit leben und sie sogar sympathisch finden auf eine bestimmte Art.

    Könnte ich also einen brutalen Serienmörder als Figur sympathisch finden? Ja, wenn wir schlüssig gezeigt wird, warum er zum Serienmörder wurde und er sich noch über etwas anderes definiert als seine brutalen Taten.

    Kommentar


    • Rhagrim
      Rhagrim kommentierte
      Kommentar bearbeiten
      Was mich in so einem Fall echt interessieren würde, wären die Gedanken bzw Absichten der Autoren, die so eine Hauptfigur erschaffen. Ob sie absichtlich eine solche Hauptfigur schaffen, um ihr "Ecken und Kanten" zu geben (und sich dadurch bewusst sind, wie die vermutlich beim Leser rüberkommt), oder ob der Autor die Figur vielleicht selbst für sympathisch hält und gar nicht realisiert, wie die wirkt.

    • Araluen
      Araluen kommentierte
      Kommentar bearbeiten
      Ich wäre mit Mary vielleicht klar gekommen, wenn sie am Anfang so selbstgerecht wäre und dann irgendeine Entwicklung durchmacht und sich daraus weiter entwickelt - eigene Fehler einsehen und so. Aber das fehlte dann auch.
      Ich glaube, die Autoren kriegen das teilweise gar nicht mit, ohne jetzt jemandem etwas unterstellen zu wollen. Aber wenn man gerade auch nach Hollywood schaut. Da werden gerade haufenweise unsympathische Bossgirls auf den Markt geworfen und anscheinend glauben da wirklich Leute, dass die Zuschauer solche Figuren sehen und mit ihnen mifiebern wollen.
  • Michael W
    Kaffeetrinker
    • 04.09.2023
    • 66

    #3
    Interessantes Thema! Ich glaube, dass beim Lesen vielen die Persönlichkeit wichtiger ist als die Handlungen des jeweiligen Charakters. Wir reden ja von fiktiven Welten. Das, was die Figuren tun, ist nicht echt und das ist offensichtlich. Aber Charakterzüge sind wesentlich abstrakter und deshalb schwieriger von jenen von echten Personen zu unterscheiden. Einem fiktiven Charakter wird oft deutlich mehr verziehen, wenn er eine andere Figur tötet, im Vergleich zu einem Gegenspieler, der arrogant ist und anderen Personen ständig beleidigt. Das ist jetzt eine Vereinfachung und es gibt viele andere Komponenten. Kontext ist wichtig, etwa die Beweggründe, weshalb der Mord begangen wurde oder warum jemand so gemein zu anderen ist.
    Jedenfalls finde ich das spannend zu sehen: Wenn ein Charakter nachvollziehbare Beweggründe hat, aber böse Dinge tut, um das Ziel zu erreichen.

    Kommentar

    • Yamuri
      Kaffeejunkie
      • 04.09.2023
      • 337

      #4
      Ich mag "Graue" Charaktere. Allerdings neige ich dazu, solchen Figuren dann in Fanfictions eine Redemption Arc zu verpassen, wenn sie in der Originalgeschichte keine bekommen.

      Generell mag ich es, wenn Figuren manipulativ und hinterhältig sind, wenn sie vielleicht sogar freundlich und nett wirken und man damit überrascht wird, dass sie die Drahtzieher hinter einem Verbrechen sind. Ich mag Antagonisten, die am Anfang gar nicht wie solche scheinen.

      Ich mag dieses "plumpe" Böse sein nicht, dieses Offensichtliche. Mir ist es lieber, wenn ich mir bis zuletzt unsicher sein kann, auch wenn ich dann immer das Bedürfnis nach einer Redemption Arc habe.

      Ich finde Xu Zhengqing aus Be Reborn einen super genialen Bösewicht. Er ist so gelungen, dass ich zeitweise den Wunsch hatte, er wäre wirklich ein Freund von Wenjies Vater gewesen und nicht der Bösewicht hinter all den Ereignissen, die sich vor der Serie und während der Serie abgespielt haben. Er hatte einerseits eine so nette, liebevolle Art, bei der aber durchaus immer wieder eine gewisse Grausamkeit durchgebrochen ist, aber so subtil, dass es nicht zu offensichtlich war.

      Auch sehr gefallen hat mir Ding Shenghuo als Bösewicht. Auch bei ihm fand ich seine perfide, manipulative Art, die Falle, die er quasi gebaut hat, um Wenjie zu manipulieren und zu zwingen zeitweise mit ihm zu kooperieren, sehr gut gemacht. Ja, ich liebe Figuren, die es auch schaffen einfach nur mit Worten jemanden unter Druck zu setzen, zu manipulieren und zu bedrohen, ganz ohne physische Folter.

      Ein absolutes No Go und der Point of No Return an dem es keine Redemption mehr geben kann, wäre für mich Vergewaltigung. Ich glaube daher schaffe ich es bisher nicht in meiner Fanfiction Xu Zhengqing diese Tat tatsächlich durchführen zu lassen. Weil es für mich wirklich ein Point of No Return wäre, etwas, das so schrecklich wäre, dass diese Figur nicht mehr zu retten wäre. Aber da ein Teil von mir immer noch etwas an diesem Bösewicht hängt, gelingt es mir noch nicht, ihn das ultimativ Böse tun zu lassen. Vielleicht werde ich es auch nie tun und immer nur als Drohung im Raum stehen lassen, wie ein dunkles Omen, eine Bedrohung, die nie eintritt aber genau dadurch ihren Schrecken entfaltet, weil man weiß, es könnte passieren und damit in ständiger Angst davor ist.

      Kommentar


      • Araluen
        Araluen kommentierte
        Kommentar bearbeiten
        Da kann ich mich anschließen. Antagonisten brauchen eine gute Storyline. Böse weil böse ist langweilig und unglaubwürdig. Lieber sind mir Bösewichte, mit denen man mitfiebern würde, wären sie der Protagonist, weil sie gute Motive und einen interessanten Charakter haben. Was sie zum Antagonisten macht, ist die Wahl ihrer Methoden.
    Lädt...