Kulte - Definition, Techniken, Psychologie und Gedankenreform

Einklappen
X
Einklappen
 
  • Zeit
  • Anzeigen
Alles löschen
neue Beiträge
  • Rhagrim
    Moderator
    • 03.09.2023
    • 388
    • Staring down the Abyss

    Kulte - Definition, Techniken, Psychologie und Gedankenreform

    Da eine meiner Hauptpersonen in meinem Projekt Mitglied eines Kultes ist, hab ich recherchiert... und ich dachte, ich teile das Ergebnis mit euch.
    Jede Ideologie - jede emotional aufgeladene Überzeugung über die Menschheit und deren Verhältnis zu der natürlichen und übernatürlichen Welt - kann von ihren Anhängern in eine totalitäre Richtung bewegt werden. Allerdings passiert das am ehesten mit Ideologien, deren Inhalt die Menschen durch ihre ehrgeizigen, oder messianischen Botschaften mitreißt, ungeachtet dessen, ob deren Ursprung religiös, politisch oder wissenschaftlich ist.

    Wo Totalitarismus existiert, wird eine Religion, eine politische Bewegung oder sogar eine wissenschaftliche organisation zu wenig mehr als einem exklusiven Kult. - Robert Jay Lifton
    Aber was ist ein Kult?

    Der Begriff “Kult” wird oft verallgemeinert und fast schon inflationär gebraucht, sodass es schwierig werden kann, eindeutig zu differenzieren und zu verstehen, was ein destruktiver Kult eigentlich ist - und was er nicht ist.

    Um sich als destruktiver Kult zu qualifizieren, müssen einige Kriterien erfüllt werden:
    • Autoritäre Anführerschaft: Eine pyramidenförmige, autoritäre Gruppe, die von einer Person, oder einer Gruppe von Personen angeführt wird, die diktatorische Kontrolle innehaben.
    • Verehrung: Der Anführer, oder die Ideologie, werden zum Objekt der Verehrung und deren Dogma zur “Wahrheit” und einzig anerkannten Realität innerhalb der Gruppe.
    • Manipulation / Täuschung: Werden bei der Rekrutierung neuer Mitglieder eingesetzt. Diese erfahren weder, worum es sich bei der Gruppe in Wahrheit handelt, woran die Gruppe tatsächlich glaubt und was von ihnen erwartet wird, wenn sie Mitglieder werden.
    • Destruktive Gedankenmanipulation: Kommt zum Einsatz, um die Mitglieder anghängig, gehorsam und loyal zu machen, und um deren Verhalten, Emotionen, Gedanken und ihren Zugang zu Information zu kontrollieren.
    • Ausbeutung: Die Mitglieder werden vom Anführer oder den Anführern augebeutet, sei es sexuell, finanziell, oder auf vielfach andere Weise.

    Dabei kann man unterscheiden zwischen Ideologischem Totalitarismus und Kulten, die verschieden, im Grunde aber sehr ähnlich sind:
    • Ideologischer Totalitarismus ist nach außen gerichtet mit dem Anspruch, Lösungen für alle Probleme der Menschheit zu bieten.
    • Kulte sind nach innen gerichtet → dort wird ein sakralisierter Guru verehrt, dessen extreme Version der Realität die Gedanken seiner Anhänger dominiert.

    Dabei gilt: Totalitäre Movements sind kultisch und Kulte sind totalitär.

    Was ist der Ursprung von ideologischen Totalitarismus? Woher stammen derart emotional aufgeladene, extremistische Muster? Hinter dem ideologischen Totalitarismus verbirgt sich die immerwährende Suche des Menschen nach allgegenwärtiger Führung - der übernatürlichen Kraft, politischen Partei, gemeinsamen Idealen, dem großen Anführer oder der unfehlbaren Wissenschaft - welche der Menschheit die ultimative Solidarität bringen, und die Angst vor dem Tod und dem Nichts besiegen werden.

    Diese Suche ist in den Mythologien, Religionen und Geschichten aller Länder vorhanden, sowie im Leben jedes Einzelnen. Der Grad, in dem sich ein Einzelner zu Totalitarismus hingezogen fühlt, hängt großteils von Faktoren der persönlichen Vergangenheit ab: Früher Vertrauensverlust, extremes umweltbedingtes Chaos, totale Dominanz eines Elternteils oder des Verantwortlichen, unerträgliche Schuldgefühle und schwerwiegende Identitätskrisen. Erlebt man so etwas in der frühen Kindheit, kann dies dazu führen, dass man dadurch eine völlige Intoleranz für das Erfahren von Verwirrung, Aufgewühltheit oder Enttäuschung entwickelt, und sich nach einem "stabilen", "sicheren" Umfeld sehnt, in der eine strikte Milieu Kontrolle herrscht. Auf der anderen Seite sind solche Erlebnisse zu einem gewissen Grad Teil jeder Kindheit, und das Potenzial für Totalitarismus ist bis zu einem gewissen Grad in jedem von uns vorhanden.

    1) Warum sind Kulte so erfolgreich?

    Kulte waren immer schon eine Gefahr, und seit dem Zeitalter des Internets und Social Media haben sich die Möglichkeiten, wie Kulte Menschen rekrutieren können, verfielfacht. Es gibt mehr destruktive Kulte als jemals zuvor und auch ihre Methoden profitieren von der Forschung rund um Gedankenkontrolle, Manipulation. Warum? Und warum nimmt man die Gefahr Gedanken beeinflussender Kulte oft nicht besonders ernst, oder unterschätzt ihren Einfluss?
    • Besonders in Gesellschaften, in denen die wichtigen Institutionen geschwächt sind, welche die Lebensrealität und das Glaubenssystem der Bevölkerung organisieren (Religion, Heirat, Familie, Tod, Autorität und Regierung), bieten Kulte eine Ersatzstruktur und versprechen dort Ordnung und “Erlösung”, wo die etablierten Institutionen dies nicht konnten. Besonders im digitalen Zeitalter, wo die Menschen durch Social Media, und später auch durch weitere Faktoren, wie die COVID19 Pandemie isoliert und voneinander entfremdet wurden, schien der Einfluss kultischer Gruppen zu wachsen.
    • Viele Menschen gehen prinzipiell davon aus, dass wir rationale Wesen sind, die für ihre eigenen Taten verantwortlich sind und diese immer kontrollieren könnten. Es ist jedoch so, dass wir durch und durch emotionale Wesen sind, die ihre Entscheidung meist sehr schnell intuitiv und moralisch treffen, um diese dann im Nachhinein zu rechtfertigen. Alle von uns sehnen sich nach Liebe, Freundschaft, Aufmerksamkeit, Anerkennung, einem “Sinn” und einer “Aufgabe” - und gerade Kulte visieren diese Wünsche an. Sie versprechen eine Gemeinschaft, eine Aufgabe, ein höheres Ziel.
    • Außerdem sind die meisten von uns von ihrer eigenen Unverwundbarkeit überzeugt und gehen davon aus, dass “mir so etwas nie passieren würde”. Aus dem Drang heraus, die Kontrolle über eigenes Leben haben zu wollen, neigen wir dazu, Erklärungen zu finden, wenn anderen Menschen etwas schlechtes passiert, was im schlimmsten Fall zum klassischen “Victim Blaming” führt - und wir den Opfern von Kulteinflüssen womöglich Dummheit, Schwäche oder Naivität unterstellen, um uns selbst von der schieren Möglichkeit zu distanzieren, dass uns das auch betreffen könnte.
    • Weiters beginnt der Prozess des “Einflusses von außen” ab dem Moment unserer Geburt und gilt als natürlicher Teil des Lebens, weswegen die Gefahr der destruktiven Gedankenkontrolle rationalisiert werden kann als “ist doch normal - dann ist doch ALLES Gedankenkontrolle.” Wobei hier zu unterscheiden gilt, zwischen normaler Beeinflussung und destruktiver Manipulation. Steven Hassan bringt den sehr anschaulichen Vergleich, dass auch Sex ein natürlicher Teil des Lebens ist - Vergewaltigung ist es nicht.

    Da Beeinflussung von außen ein Teil unseres alltäglichen Lebens ist, teile ich hier die Grafik des Einflusskontinuums, um zwischen gesunder “normaler” und destruktiver Beeinflussung zu unterscheiden (frei übersetzt und nach Vorlage von Steven Hassans Seite freedomofmind.com)
    Klicke auf die Grafik für eine vergrößerte Ansicht  Name: kult-einflusskontinuum.jpg Ansichten: 0 Größe: 357,4 KB ID: 748




    2) Die 4 Haupttypen von Kulten
    • Religiöse oder Spirituelle Kulte: Diese Gruppen fokussieren sich auf religiöses Dogma oder spirituelle Praktiken. Oft gilt der Anführer als Messias, Prophet oder Apostel, oder in östlich orientierten Gruppen als Avatar, Guru, Erleuchteter, etc. (Bsp. Moonies, Scientology, etc.)
    • Politische Kulte: Diese Gruppen sind um ein bestimmtes, politisches Dogma organisiert, und landen normalerweise öfter in den Schlagzeilen, wenn es sich z.B. um extremistische Kleinparteien oder Terroristengruppen handelt. Auch bei Diktaturen, die ein brutales, repressives Regime führen, das Kritiker und Andersdenkende einsperrt oder tötet, handelt es sich oft um einen politischen Kult. (Bsp. Hitler in Deutschland, Mao Zedong in China, etc.)
    • Therapeutische Kulte / Large Group Awareness Trainings (LGAT): Therapeuten und Leiter von sog. Large Group Awareness Trainings werden zu Kultanführern, wenn sie bei ihren Patienten bzw. Workshopteilnehmern Abhängigkeit erzeugen, anstatt Unabhängigkeit und persönliche Stärke. Oft bieten sie teure Workshops oder Seminare an, die “Einsicht”, “Erleuchtung” oder “Glück”, versprechen und dazu dienen, ihre Mitglieder langfristig an die Gruppe zu binden.
    • Kommerzielle Kulte: Visieren den Wunsch der Menschen nach Geld und Macht an, nutzen ihre Mitglieder in Wahrheit finanziell allerdings aus. Multilevel Marketing ist z.B. ein “klassisches” Beispiel für einen kommerziellen Kult (indem Anwärtern Geld versprochen wird, das sie nicht nur durch eigene Verkäufe, sondern besonders durch die Verkäufe jener verdienen, die sie selbst rekrutieren).


    3) Die Struktur von Kulten

    Kulte sind in Form einer Pyramide organisiert:
    • Angeführt von dem Anführer oder den Anführern des Kultes, welche die absolute Macht innehaben, die nicht hinterfragt werden darf. Sie legen die “Wahrheit” und die moralischen Richtlinien fest und gelten als das Ideal, welchem die Mitglieder nachzueifern haben. Klicke auf die Grafik für eine vergrößerte Ansicht  Name: kultpyramide.jpg Ansichten: 0 Größe: 127,2 KB ID: 749
    • Unter ihnen stehen die Sub-Leaders, die mit der gesamten Doktrin und Agenda vertraut sind und womöglich auch die schmutzigen Geheimnisse des Anführers kennen. In diesen Rang kann man nicht einfach “aufsteigen”. Er basiert auf Vertrauen und darauf, dass die Mitglieder genug gegeneinander in der Hand haben, um die gegenseitige Loyalität sicherzustellen und zu verhindern, dass irgendjemand es wagt, Geheimnisse auszuplaudern.
    • Der innere Kern treuer Anhänger kennt die Doktrin und die Agenda, gehört aber nicht zu den Anführern, welche die tatsächlichen Entscheidungen treffen. Sie sind immer noch “Arbeiter”, die allerdings schon viel in den Kult investiert haben, sodass sie ihm völlig ergeben sind.
    • Eingeweihte Mitglieder sind jede, die in den “inneren Kreis”, in die tatsächliche Pyramide aufgenommen wurden. Sie werden mit der eigentlichen Doktrin vertraut gemacht, sodass sie nicht nur die “Techniken” des Kultes kennen, sondern auch deren Bedeutung. Sie werden mit der eigentlichen Literatur vertraut gemacht, mit dem Sprachcode und mit dem eigentlichen Ziel des Kultes.
    • Außerhalb der Pyramide befindet sich der äußere Kreis der “Randmitglieder”. Sie sind Anwärter, Rekruten, die mit dem Moralsystem des Kultes vertraut gemacht werden und lernen, was dort als “Gut” und “Böse” gilt. Sie sind allerdings noch nicht in den Kult involviert und haben noch nicht so viel Zeit und Geld darin investiert. Sie sind noch nicht “bereit” für die ganze “Wahrheit”, die jeder Person individuell immer nur so viel “gefüttert” wird, wie sie bereit ist, diese zu verdauen.


    4) Rekrutierung

    Ich möchte hier die Aussagen von zwei Kultspezialisten zitieren:
    “Menschen schließen sich keinem Kult an, sondern einer guten Sache - bis diese plötzlich kippt.” -Mark Vincente
    ”Menschen schließen sich keinem Kult an - sie werden rekrutiert.” - Steven Hassan
    Die Übereinstimmung der ersten Aussage ist der springende Punkt. Niemand schließt sich freiwillig einem “Kult” an, sondern einer Gruppe, die seiner Ansicht nach einer guten Sache dient. Selbst aktiv involvierte Kultmitglieder blicken oft verächtlich auf Mitglieder anderer Kulte und bezeichnen diese als “Mitglieder eines Kults” und “Gebrainwashed”, während sie gleichzeitig völlig blind für ihre eigene Situation sind.

    Wie geht diese Rekrutierung in der Praxis vonstatten? Es gibt einige, gängige Taktiken:
    1. Durch einen Freund oder Verwandten, der bereits Mitglied ist
    2. Durch einen Fremden (oft vom anderen Geschlecht), der sich mit dem Opfer anfreundet, eventuell mit ihm flirtet und ihn mit der Gruppe in Kontakt bringt
    3. Durch ein vom Kult gesponsertes Event, wie zB einen Vortrag, Workshop, Symposium, Film, etc.
    4. Durch Social Media, wie z.B. Facebook, Youtube, Vimeo, Instagram, Websites, Blogs, etc. Sogar Wikipedia, oder Suchmaschinen wie Google oder Bing werden inzwischen aktiv von einflussreichen Kultgruppen manipuliert, um kritische Informationen zu verschleiern und Falschinformationen zu verbreiten.

    Dabei gibt es, entgegen dem Klischee des unglücklichen Außenseiters, keinen speziellen “Typ”, der besonders anfällig für die Rekrutierung ist. Es kann tatsächlich jeden treffen und normalerweise hegt das Opfer keinerlei Verdacht, dass es rekrutiert wird. Die Annäherung an das Opfer wird oft sehr individuell an dessen Charakter und Interessen angepasst und geschieht zumeist zu einer Zeit, in der das Opfer eine schwierige, stressige Zeit durchmacht. (Selbstfindung in der Pubertät, Umzug, Verlust einer geliebten Person, Beziehungsprobleme, finanzielle, oder familiäre Probleme, etc.)

    Kulte appellieren dabei oft besonders an den Wunsch nach Glück, Zufriedenheit oder Erlösung, an Idealismus und den Wunsch, die Welt zu verbessern. Sie geben vor, den “richtigen Weg” bzw. “die Wahrheit” zu kennen und geben dem Einzelnen das Gefühl von Zugehörigkeit und für eine Vision zu arbeiten, die größer ist als er selbst. Er bekommt das Gefühl vermittelt, ein Auserwählter im historischen Prozess zu sein - oft geht es entweder darum, als einer von wenigen eine nahende Apokalypse zu überleben, oder zu einer kleinen, auserwählten Elite zu gehören, welche die Menschen auf “den richtigen Weg” führen könnten.


    5) Cults B.I.T.E

    “If you change a person´s behaviour, his thoughts and feelings will change to minimize the dissonance.”- Leon Festinger, cognitive dissonance theory, 1950
    Das B.I.T.E Modell von Steven Hassan bietet eine sehr kompakten und übersichtliche Zusammenfassung der Wirkungsweise und Methode von Kulten, und wie man sie anhand dieser erkennen kann:

    B) Behaviour Control (Kontrolle des Verhaltens)

    Bei der Kontrolle des Verhaltens geht es darum, zu kontrollieren, wo und wie eine Person lebt, in welchem Umfeld sie sich bewegt, mit welchen Menschen sie in Kontakt tritt und sozialisiert (und mit welchen nicht - z.B. “alte” Freunde, Familie, etc.), welche Kleidung sie anzieht, welche Nahrung sie zu sich nimmt und welche Aktivitäten ihren Tagesablauf füllen (Arbeit, Freizeit, Aktivismus, Rituale, Schlafrythmus, etc.).

    In destruktiven Kulten gibt es immer etwas zu tun, um die Mitglieder beschäftigt zu halten: Rekrutieren, Geld sammeln, Aktivismus, kultbezogene Arbeiten, Besuchen von Seminaren, Workshops und Trainings, Selbstindoktrination durch einschlägige Literatur, Videos, uvm.

    Gruppendenken und -aktivitäten werden gefördert, während Individualismus absolut nicht gutheißen wird und nicht gruppenkonformes Verhalten mit öffentlicher Bloßstellung und Kritik, oder körperlichen Strafen oder erniedrigenden Arbeiten geahndet wird.

    Dabei werden immer wieder Grenzen überschritten und eingerissen, die eine Person versucht, zu setzen. Jeglicher Widerstand gilt als ihr “Problem”, als der Grund, warum sie die “Wahrheit” nicht erkennen können, oder warum sie damit ihr eigenes “Wachstum” verhindern. Somit werden Mitglieder zu Komplizen in dem Prozess gemacht, der ihre eigenen Grenzen und ihr gesundes Selbstgefühl zerstört.

    Ein wichtiger Faktor dabei ist der sog. “Social Proof”: Verhalten, das man annimmt, weil es “alle anderen machen” und das heraussticht, wenn man es nicht imitiert - Gesten, Ausdrucksweise, Rituale, uvm. Menschen neigen dazu, ihre eigene Wahrnehmung und die Richtigkeit ihrer Entscheidungen zu hinterfragen und diese anzupassen, wenn das Verhalten oder die Meinung “aller anderen” der eigenen widerspricht.

    Bedient folgende Elemente aus Robert J. Liftons 8. “Sünden” der Gedankenreform (siehe unten):
    • 1 - Milieu Kontrolle
    • 3 - Forderung nach absoluter “Reinheit”
    • 4 - Kult des Geständnisses - Struggle Sessions?
    • 7 - Doktrin über Person


    I ) Informations Kontrolle

    In vielen Kults wird der Zugang zu Information streng kontrolliert und zensiert, sodass Mitglieder in einer “Echo-Chamber” gefangen werden, die sämtliche kritische oder alternative Informationen entweder völlig unzugänglich macht, oder diese als “ungesund” und “unbedingt zu vermeiden” labeled: z.B. als satanisch, (rechts-, links- oder anders extreme) Propaganda, oder als anders “böses Gedankengut enthaltendes” Werk.

    Informationskontrolle betrifft auch zwischenmenschliche Beziehungen, da den Mitgliedern verboten wird, sich in irgendeiner Weise kritisch über den Anführer, die Gruppe, oder die Doktrin zu äußern. Sie werden dazu aufgefordert, sich gegenseitig zu bespitzeln und “verräterisches” oder “unreines” Verhalten aufzuzeigen bzw. zu melden.

    Außerdem gilt es als absolut essenziell, um jeden Preis den Kontakt zu Ex-Mitgliedern oder Kritikern zu meiden: jenen Personen, welche womöglich eine realistische Außenperspektive und berechtigte Kritik aufzeigen - und damit womöglich Zweifel in den Mitgliedern wecken könnten.

    Bedient folgende Elemente aus Robert J. Liftons 8. “Sünden” der Gedankenreform (siehe unten):
    • 2 - Mystische Manipulation
    • 5 - Heilige Wissenschaft

    T) Thought Control ( Kontrolle der Gedanken)

    Die Kontrolle der Gedanken zielt darauf ab, die Mitglieder so umfassend zu indoktrinieren, dass sie die Kultdoktrin als “einzige Wahrheit” internalisieren, den Sprachcode des Kultes lernen und Gedankenstoppende Techniken praktizieren, um ihren “Verstand zu fokussieren” und Zweifel und kritische Gedanken abzublocken (z.B. Meditation, Summen, Singen, Beten, rezitieren, uvm).

    Die Kultdoktrin entscheidet nicht nur darüber, welche Information zugänglich gemacht wird, sondern auch, wie über diese Information gedacht werden kann. Normalerweise ist die Doktrin absolut und teilt alles strikt in Schwarz und Weiß, und “wir gegen die”.

    Alles Gute und Rechtschaffende ist im Anführer, der Gruppe und der Doktrin verkörpert - alles außerhalb der Gruppe ist “unwissend”, “ignorant”, “schlecht”, “böse”, etc.

    Die Kultdoktrin nimmt für sich in Anspruch, eine Antwort auf alle Fragen, Probleme und Situationen zu haben und behauptet oft gar, wissenschaftlich belegt zu sein, was aber nie wirklich der Fall ist.

    Da die Kultdoktrin und der Anführer bzw. die Gruppe als perfekt gilt, wird jeder Zweifel und jedes Problem zu einem Fehler des Einzelnen, der “nicht rein genug”, nicht “erleuchtet”, “aufgeschlossen” oder “reflektiert” genug ist, oder der “von Satan verführt” wurde. Diese Schuld, die somit im Einzelnen installiert wird, ist ein mächtiges Kontrollwerkzeug des Kultes, der von dem stets imperfekten Einzelnen verlangt, noch härter an sich zu arbeiten.

    Ein essenzieller Punkt ist die aufgeladene Sprache und der Sprachcode des Kults. Die Bedeutung mancher Begriffe wird umgedeutet, sodass sie für “Eingeweihte” Kultmitglieder eine andere Bedeutung haben, als für “Außenstehende”. Manche Worte werden emotional aufgeladen und dienen u.a. als sog. “Gedankenterminierende Klischees”, die z.B. ermöglichen, eine mit einem solchen Begriff gelabelte Person oder Meinung prinzipiell abzuschmettern, sie als “Feind” wahrzunehmen und ihre Ansichten deswegen als illegitim zu sehen. (z.B. während Mao Zedongs Kulturrevolution in China galten als solche Begriffe “Konterrevolutionär”, “Imperialist”, “Rechtsextremer”, “Burgeoise Mentalität”, etc.)

    Die Doktrin des Kults ist dabei nicht nur eine Theorie, oder eine Meinung, die hinterfragt oder gar kritisiert werden kann - sie die einzige Realität.

    Das macht jedoch auch ihren Schwachpunkt aus, wie Robert Jay Lifton in seinem Buch “Losing Reality” schön schreibt:
    “There is a Sisyphean element in all this: the cultist puryfiers cannot roll their ideological rock on the top of the hill of reality control. They can impose their reality on many for a considerable period of time, but they ultimately discover that the human mind is not completely manipulable, that sooner or later they will encounter what I speak of as the hostility of suffocation and the law of diminishing conversations.”
    Bedient folgende Elemente aus Robert J. Liftons 8. “Sünden” der Gedankenreform (siehe unten)
    • 3- Demand for Purity
    • 5 - Heilige Wissenschaft
    • 6 - Loaded Language
    • 7 - Doctrin over Person
    • 8 - Dispensing of Existence

    E) Emotionale Kontrolle

    Bei der emotionalen Kontrolle geht es darum, zu kontrollieren, wie Kultmitglieder auf bestimmte Informationen und Situationen emotional reagieren, und das Emotionsspektrum der Mitglieder generell auf “Schwarz und Weiß” bzw. “Alles oder Nichts” zu reduzieren: Entweder sie fühlen sich wunderbar - als auserwähltes Mitglied der Elite, geliebt und angesehen und Teil einer bedeutsamen Bewegung. Oder sie fühlen sich schuldig, sündig, befleckt, gebrochen und nicht “genug” und sind deswegen verpflichtet dazu, zu gestehen, zu bereien, sich härter anzustrengend und ein besseres, ergebeneres Mitglied zu werden.

    Loyalität und Ergebenheit gelten als “beste” und "wünschenswerte" Emotionen, während eigene Gefühle und Bedürfnisse als “egoistisch”, "asozial" oder "beschränkt" gelten.

    Bei all dem spielen Angst und Schuld die Schlüsselrolle - wobei beides den Kultmitgliedern oft gar nicht bewusst ist:
    • Durch Angst und oft durch die Eintrichterung von Phobien (z.B. der Apokalypse, einer Naturkatastrophe, Alieninvasion, staatlichen Institutionen, Ex-Mitgliedern und Kritikern, der vom Satan beherrschen Welt außerhalb des Kults oder davor, die Gemeinschaft zu verlieren und genauso geächtet zu werden wie die anderen “bösen” Ex-Mitglieder) werden die Mitglieder an die Gruppe gebunden, sie ihnen “Sicherheit” verspricht und den “richtigen Weg” zeigt.
    • Schuld kann in vielen Formen vermittelt werden: Historische Schuld (z.B. Nazi-Deutschland, Kolonialismus in Amerika, etc.), Identitätsschuld (aufgrund von Hautfarbe, Geschlecht, Gesellschaftlicher Status, etc., Schuld aufgrund vergangener Taten (z.B. Schummeln, Drogenkonsum, problematisches Verhalten, etc.) und Sozialer Schuld (Welthunger, Sklaverei, Klimakrise, etc.)

    Dabei kommt eine der wirkungsvollsten Methoden eines Kults zum Einsatz: Dem Geständnis, das öffentlich geschehen muss. Oft gibt es dafür regelmäßige Geständnis-Sessions, in der die Beteiligten nacheinander vergangene Sünden, “falsche Taten” und “schlechte Gedanken” gestehen müssen. Dabei wird nicht nur erarbeitet, wie sie es künftig “besser machen” können, sondern es gibt der Gruppe auch ein wirksames Druckmittel in di Hand, mit der die Mitglieder im schlimmsten Fall erpresst werden können, sollten sie beispielsweise den Kult verlassen.

    Bedient folgende Elemente aus Robert J. Liftons 8. “Sünden” der Gedankenreform (siehe unten):
    • Cult of Confession (Lifton, 4)

    Gemeinsam formen die vier Punkte des B.I.T.E Modells ein totalitäres Netz, mit dem sogar die intelligentesten, kreativsten, ehrgeizigsten und charakterstärksten Personen manipuliert werden können. Tatsächlich sind es oft gerade jene, welche am stärksten in den Kult hineingezogen werden, da dieser oft gerade den Wunsch anspricht, sich selbst und die Gesellschaft, oder gar die Welt verbessern zu wollen.


    Robert Jay Liftons 8 “Sünden” der Gedankenreform

    Bei seinem Studium Überlebender der “Umerziehungslager” und “revolutionären Universitäten” während der chinesischen Kulturrevolution erarbeitete Robert Jay Lifton 8 Kriterien, nach denen man jede Umgebung und jede Gruppe darauf prüfen kann, ob und in welchem Maß ideologischer Totlitarismus und Gedankenreform stattfindet.

    Dabei ist zu unterscheiden zwischen "Gedankenreform" und "Gehirnwäsche":
    • Gehirnwäsche bezeichned einen gewalttätigen Akt, der oft von Misshandlungen oder gar Folter begleitet wird. Das Opfer ist oft ein Gefangener und weiß, dass er in den Händen des Feindes ist.
    • Gedankenreform bzw, -beeinflussung ist subtil und das Opfer ist sich oft nicht bewusst, dass es manipuliert wird. Es nimmt die Täter als Lehrer, Kameraden oder Freunde wahr und gibt freiwillig persönliche Informationen über sich preis, die später gegen ihn verwendet werden.

    Gedankenreform besteht, ungeachtet ihrer Umgebung, aus zwei grundlegenden Elementen:
    • Dem Geständnis: Aufzeigen und Gestehen vergangener und gegenwärtiger Sünden, und
    • Der Umerziehung: Neugestaltung des Menschen nach dem ideologischen Vorbild


    1) Milieu-Kontrolle

    Die grundlegenste Eigenschaft eines totalitären Systems, auf die alles andere aufbaut, ist die Kontrolle der Umgebung und menschlicher Kommunikation.

    Dies geschieht u.a. durch:
    • Soziale Kontakte (Familie, Freunde etc. werden durch Mitglieder der neuen “Gemeinschaft” ersetzt)
    • Media und Entertainment (z.B. Algorithmen, Propaganda und Zensur),
    • Schulen und Ausbildung (z.B. Gestaltung der Klassenräume und des Unterrichtplans),
    • Religion
    • im Dialog miteinander durch die Sprache und die Bedeutung der Worte, und wie wir sie benutzen
    Zu Mao Zedongs Zeiten wurde dies einerseits durch "Umerziehungsgefängnisse" (Re-education camps) und Universitäten ("revolutionary colleges") erreicht.

    In unserer modernen Zeit spielt Social Media und die permanente Verfügbarkeit und mögliche Überwachung durch Smartphones, Laptops & Co. in der Milieu Kontrolle eine bedeutende Rolle, da diese damit nicht nur in einem ausgewählten, begrenztem Umfeld, sondern permanent ermöglicht wird. Einmal in diesem Milieu und seinen "Echo Chambers" gefangen und davon transformiert, werden Fakten nur noch gefiltert durch die Brille der vorgegebenen "Wahrheit" wahrgenommen. Bedingt durch den entstandenen Bias und die Angst vor den Konsequenzen davor, eine davon abweichende Meinung auszudrücken, werden Informationen "von außen" werden immer weniger als "legitim" angesehen. Dadurch entsteht die konstruierte, veränderbare Realität des totalitären Systems, die sich im Kontrast zu der unmittelbaren, tatsächlichen Realität seiner Umwelt befindet.


    2) Mystische Manipulation

    Der nächste Schritt nach der Kontrolle des Milieus, ist die Manipulation der Person selbst. Gleichzeitig wird dabei eine "mystische Aura" um die Organisation, Gemeinschaft, etc. aufgebaut, die als "das einzig Wahre" dargestellt wird bzw. diejenige, die "Zugang zur Wahrheit" oder "Erlösung" hat. Initiiert von den Verwaltern des totalitären Systems, geschieht durch das Element der "geplanten Spontanität" - durch die scheinbar spontan, bestimmte Verhaltensmuster und Emotionen im Umfeld provoziert bzw. getriggert werden. Durch emotionale und psychische Manipulation wird der Einzelne demoralisiert und verunsichert, indem er z.B. als unwissend, unmoralisch, oder als "Feindbild" der jeweiligen Ideologie dargestellt und seine Meinung seine Wahrnehmung dadurch entwertet wird.

    In den "Umerziehungslagern" galt als wirksame Methode eine sog. "Struggle Session", in der Gefangene gemeinsam ihre "Sünden" und "falschen Gedanken" gestehen mussten, wofür sie von ihrem Mitgefangenen kritisiert und zur Rechenschaft gezogen wurden. Daraufhin "half" man ihnen, die "richtigen" Gedanken zu erarbeiten, während es gleichzeitig auch für sie Pflicht wurde, anderen Gefangenen auf die gleiche Art zu "helfen".

    Gibt man sich dieser Manipulation vertrauensvoll hin, kann ein Gefühl der Erfüllung und der höheren Bestimmung entstehen. Man ist Teil des Prozesses, Teil der Geschichte oder der Revolution. Verliert man dieses Vertrauen jedoch, oder widersetzt man sich dieser Manipulation von vornherein, steht man immensem Druck entgegen, welcher dazu führen kann, dass man schlussendlich daran zerbricht oder zumindest lernt “mit dem Strom zu schwimmen”, um zumindest den Eindruck von Konformität zu vermitteln.


    3) Forderung nach absoluter "Reinheit”

    Damit ist die Forderung nach absolut moralischer "Reinheit" und Ergebenheit zur Sache gemeint. Es wird eingeteilt in "Rein" =gut und "Unrein" =böse (sündig, wenn man so will).

    Das "Gute" und "Reine" beinhaltet Ideen, Gefühle und Taten, die mit der totalitären Ideologie und deren Geboten konform gehen, während alles andere als "Böse" und "Unrein" gilt, und dementsprechend scharf verurteilt wird, das aufgezeigt und eliminiert werden muss. Es entsteht ein Kampf gegen das “Böse”, in dem der Zweck die Mittel heiligt und jede Tat - egal, wie unmoralisch - gerechtfertigt ist, solange sie im Namen der Revolution bzw. des “Guten” geschieht.

    Dadurch wird ein Klima moralischer Schuld bzw. Scham erzeugt, indem jeder dazu angehalten wird, permanent seinen eigenen Glauben zur Sache zu demonstrieren. Nach außen hin kann das u.a. relativ unkompliziert durch das sog “Virtue Signalling” (Symbolische, öffentliche Demonstrationen, dass man die “richtige Gesinnung” vertritt) erreicht werden, mit dem man sich selbst auf der “richtigen Seite” präsentiert, ohne sich dabei tiefer in die Sache involvieren zu müssen.

    Der immense soziale Druck, der durch dieses Klima entsteht, führt dazu, dass Menschen aus dem Wunsch heraus, nicht aus der Gesellschaft bzw. der Bewegung ausgestoßen und als Feind deklariert werden, einknicken und ihre eigenen Moralvorstellungen, Zweifel und Ansichten der Ideologie unterordnen.

    Das psychologische Phänomen der “Projektion” (in dem eigene, unbewusste Gefühle, Zweifel, Schuld, etc. auf die Mitmenschen projiziert werden) wird dabei gefördert und je mehr internalisierte Schuld ein Mensch empfindet, desto hasserfüllter und fanatischer projiziert er diese auf seine Mitmenschen.


    4) Kult des Geständnisses

    Hand in Hand mit der Forderung nach Reinheit geht die Obsession mit dem “Geständnis”. Dabei wird ab einem bestimmten Punkt sogar gefordert, dass Sünden gestanden werden, die niemals begangen - oder auch nur gedacht worden sind. Dadurch entsteht ein Klima künstlich erzeugter Schuld, welche die Erinnerung der Opfer zu untergraben beginnt und in ihnen den Eindruck erweckt, sie hätten diese Sünden tatsächlich begangen.

    Anstatt Erleichterung und Absolution zu bringen, wird das Geständnis als Druckmittel benutzt, das einen permanent mit den vergangenen “Sünden” konfrontiert und dazu zwingt, sich zu “bessern”, sich nach Vorbild des totalitären Regimes zu formen.

    Sog. “Sharing Sessions” oder “Struggle Sessions”, in denen gemeinschaftlich “Sünden”, “schlechte Gedanken”, “internalisierte Glaubenssätze” etc. geteilt werden, können dabei eine eigene Dynamik entwickeln, in welcher die Geständigen ein berauschendes Gefühl der Einheit verbindet.

    Ironischerweise führen derartige “Geständnis Sessions” teilweise dazu, dass sie zu einem performativen Akt verkommen, welcher der Selbstdarstellung dient und dazu, andere zu verurteilen. ”Je mehr, ich mich selbst verurteile, desto mehr habe ich das Recht, dich zu verurteilen.”


    5) Heilige Wissenschaft

    Das totalitäre Milieu bewahrt eine heilige Aura um sein grundlegendes Dogma und macht aus diesem die ultimative, moralische Vision für die Ordnung der menschlichen Existenz. Zugleich nimmt das Milieu für sich in Anspruch, dass diese Vision der absoluten Logik entspricht und absolute, wissenschaftliche Präzision besitzt.

    Damit wird jede Person, die sich dagegen ausspricht, nicht nur “unmoralisch”, sondern auch “unwissenschaftlich”.

    Die Doktrin des totalitären Milieus schwingt sich damit zu einer Art “Gott” auf, einer Mischung aus Pseudo-Religion und Pseudo-Wissenschaft. die den Anspruch auf die “absolute Wahrheit” erhebt, die für alle Menschen zur jeder Zeit gültig ist. Dadurch kann sie dem Einzelnen, der darauf vertraut und sich ihr “hingibt” ein Gefühl der Stabilität und Sicherheit verleihen.

    Langfristig erweist es sich jedoch als schwierig, dieses bedingungslose Vertrauen bzw. den Anspruch an “ultimative Wahrheit” aufrecht zu erhalten, da die “heilige Wissenschaft” früher oder später mit der unveränderbaren Realität im Widerspruch steht und Erfahrung und Dogma zu unterschiedlichen Ergebnissen führen.


    6) Aufgeladene Sprache

    Die Sprache des totalitären Umfelds wird von “Gedankenterminierenden” Klischees geprägt. Vielseitige und weitreichende Probleme und Themengebiete werden in kurze, einprägsame Schlagworte gepackt, die leicht gemerkt und schnell ausgesprochen werden können.

    Sie dienen dazu, nuancierte Themen in schwarz und weiß zu unterteilen, in Begriffe des absolut Guten und absolut Bösen, die durch diese aufgeladene Bedeutung jede weitere Diskussion im Keim ersticken.

    Während der chinesischen Gedankenreform standen z.B. Begriffe wie “Fortschritt”, “Befreiung”, “Progressivität”, “proletatische Blickwinkel” und “Dialektik der Geschichte” für das ultimativ Gute.

    Begriffe wie “Kapitalist”, “Imperialist”, “Ausbeutende Klassen”, “Burgeoise (Mentalität/Moral/Gier/Liberalismus)”, “Konterrevolutionär” standen für das ultimativ Böse.

    Solche Schlagworte dienten dazu, zu kategorisieren und zu verurteilen und bis zu einem gewissen Grad, existiert diese Art von Sprache in jeder Kultur oder Organisation und alle Glaubensrichtungen stützen sich darauf. Es ist unter anderem ein Zeichen von Zusammengehörigkeit und Exklusitivät.

    Oder, wie Edward Sapir sagt: “’Er spricht wie wir’ ist gleichbedeutend, wie zu sagen ‘Er ist einer von uns.”

    In einem totalitären Milieu ist eine derart aufgeladene Sprache jedoch um ein vielfaches extremer und dient dazu, die Gedanken, Kreativität und Ausdrucksweise der Menschen einzuengen und regelrecht “in Ketten zu legen”.


    7) Doktrin über Person

    Der auf Klischees reduzierte Sprachcode reflektiert einen anderen, charakteristischen Bereich ideologischen Totalitarismus: Das Unterordnen persönlicher Erfahrung der Doktrin und “Wahrheit” des totalitären Milieus.

    Persönliche Erfahrungen werden nur mehr durch die Brille der vorgegebenen Doktrin bzw. des vorgegebenen Narrativs gefiltert und interpretiert. Dadurch kann u.a. das Bild der “guten Kameraden” trotz schlechter Erfahrungen aufrecht erhalten werden, während gute Erfahrungen mit “dem Feind” so interpretiert werden können, dass das vorgegebene Weltbild aufrecht erhalten bleibt.

    Dadurch wird die Doktrin, eine abstrakte Idee, über den Menschen und dessen Erfahrungen gestellt. Sie dehumanisiert ihn und stellt ihn als “falsch” dar, wenn seine realen Erfahrungen nicht mit der theoretischen Idee der Doktrin konform gehen.

    Dadurch entsteht im Individuum ein immenser Konflikt zwischen der erlebten Realität und dem Widerspruch zur Doktrin - was dazu führen kann, dass die Person sich als “böse”, “unrein”, “falsch” wahrnimmt, oder einen Weg findet, das Erlebte so zu rechtfertigen, um es in das vorgegeben Narrativ zu pressen.


    8) Zugestehen der Existenz

    Das totalitäre Milieu zieht eine scharfe Linie zwischen jenen (innerhalb des Kults bzw. des Regimes), die das Recht haben zu existieren, und jenen (außerhalb des Kults bzw. des Regimes, den Andersdenkenden, den Kritikern, etc.), die kein Recht darauf haben.

    Während der Kulturrevolution in China wurde dabei strikt unterteilt in jede, die zum “Volk” bzw. “The people” gehörten (all jene, die zur kommunistischen Partei und zur Arbeiterklasse gehörten) und den “Feinden”, den “non-people” (Konterrevolutionäre, Reiche Bürger, etc.).

    Dabei ist es gang und gäbe, die als “Feind” deklarierten Bevölkerungsgruppen zu dehumanisieren, um ihnen ihre Existenzberechtigung abzusprechen und Gewalt und Mord zu rechtfertigen.
    “Not to have a correct political point of view is like having no soul” - Mao Zedong
    Durch den Prozess der Gedankenreform wurde es den “Non-People” jedoch erlaubt, in den Kreis der “People” aufgenommen zu werden - wenn sie ihre “Sünden” und “falschen Gedanken” gestanden, ihre Einstellung änderten, ihre ehemaligen Freunde und Angehörigen denunzierten.

    Umso klarer eine Umgebung diese 8 Punkte widerspiegelt, desto mehr ähnelt sie einem Milieu des ideologischen Totalitarismus und umso mehr Techniken sie daraus anwendet, um Menschen zu beeinflussen und zu verändern, desto mehr entspricht sie einer Umgebung der Gedankenreform.

    Die Konsequenzen: Was passiert mit dem Selbst?

    Die authentische Identität wird durch 3 Schritte mit einer künstlich erschaffenen “Kult”Identität ersetzt. Das Modell stammt von Kurt Lewin, der es in den 1940ern entwickelte.
    • Unfreezing (Auftauen): Dabei wird das authentische Selbst einer Person erschüttert und ihre bisherige Lebensrealität in Frage gestellt, um sie für die radikale Veränderung vorzubereiten.
    • Verändern: Eine verwirrte, verunsicherte oder verstörte Person ist offen für das neue Set an Verhaltensregeln, Gedanken, Emotionen und Glaubenssätzen, die ihr vom Kult vermittelt werden. Diese Indoktrination wird einerseits duch Seminare und Rituale erreicht, und andererseits, indem der Kultanwärter Zeit mit den Kultmitgliedern verbringt und Literatur, Vorträge, Videos und anderes Kultmaterial konsumiert.
    • Re-Freezing (Einfrieren): Der Anwärter wird als “neue Person” neu aufgebaut, erhält einen neuen Sinn im Leben, eine Mission und Aufgaben, die ihre neue Identität zementieren. Während dieser Phase werden vergangene gute Erinnerungen minimiert, während vergangene Enttäuschungen, Verletzungen und vergangene Schuld aufgebläht und maximiert wird. Die Gruppe wird zur neuen “wahren” Familie des Mitglieds, während die biologische Familie abgewertet wird und verstoßen werden, und alte Bande gekappt werden sollen. Oft wird von den Mitgliedern an diesem Punkt erwartet, ihr Geld und ihre Besitztümer dem Kult zu übergeben, alte Hobbies und Leidenschaften aufzugeben und ihre Zeit stattdessen dem Kult zu widmen.

    Entscheidungsfreiheit ist das Erste, was einem in der kultischen Umgebung genommen wird. Die Person agiert nicht mehr als Individuum, sondern als Teil der Gruppe. Ihre neue Kultpersona diktiert ihre Glaubenssätze, ihre Sprache und ihr Verhalten.

    Steven Hassan beschreibt eindrucksvoll, wie sich diese beiden Identitäten (das authentische Selbst und das Kult-Selbst) in einer Person manifestieren und miteinander im Konflikt stehen, da das authentische Selbst niemals zu 100% ausgelöscht werden kann - selbst bei Menschen, die in einen Kult hineingeboren werden.

    Dies äußert sich auf verwirrende Art für Außenstehende, da der Betroffene oft in einem Moment Kult-Jargon spricht, mit einem feindseligen, elitären Ton, während er einen Augenblick darauf - womöglich mitten im Satz - plötzlich in sein vertrautes, “altes Selbst” zurückschnappt.

    Das Kult-Selbst wirkt angespannt, kalt und mechanisch, wiederholt immer wieder die Glaubenssätze und Lektionen des Kults auf eine unangebrachte, übergriffige Art und Weise. Die Körperhaltung wirkt steif, die Augen oft starr und glasig und scheinen durch einen hindurchzusehen. Dieses Selbst ist so “eingefroren”, dass es selbst Misshandlungen durch den Kultanführer nicht verarbeiten oder gar angemessen darauf reagieren kann.

    Das Authentische Selbst dagegen wirkt natürlicher, ist offener für Spontanität, vielleicht gar humorvoll, und hat Zugriff auf eine weitaus größere Palette an Emotionen, die auch bereitwilliger geteilt werden. Nur über diesen Teil der Person besteht eine Chance, Zugang zu finden und Veränderung anzustoßen.

    (Aber den Part darüber, wie man Mitgliedern helfen kann, packe ich ggf. mal in einen zweiten Post - aus dem hier ist eh schon ein Roman geworden )



    Zum Schluss: Wichtige Kulttaktiken und Begriffe
    • Gaslighting: Ein gängiger Begriff und eine gängige Taktik toxischer Personen, um ihre Opfer zu manipulieren. Die Täter bauen dabei ein eigenes Narrativ auf, mit dem sie das Opfer konfrontieren, damit dieses nach und nach beginnt, sich selbst zu hinterfragen und an sich selbst und seiner eigenen Wahrnehmung zu zweifeln. Die Täter lügen dabei, spielen die Gefühle und Gedanken ihres Opfers herunter, stellen es v.a. vor Freunden und Familie bloß, lenken - wenn man ihr Verhalten aufzeigt - vom Thema ab und verdrehen Geschehnisse in der Vergangenheit zu ihren Gunsten. Sie manipulieren oft bewusst mit freundlichen Worten und Zusicherungen, weisen jede Schuld von sich und schieben sie dabei meist gleichzeitig ihrem Opfer zu.
    • D.A.R.V.O (Deny - Attack - Reverse the role of - Victim and - Offender): D.A.R.V.O ist eine Form von Gaslighting und eine klassische (oft unbewusste) Taktik toxischer Personen, die sie benutzen, wenn man ihr problematisches Verhalten, ihre Schandtaten oder ihre Provokationen aufzeigt. Sie besteht aus:
      1) Leugnen, dass die Misshandlung/Provokation/Lüge/etc. jemals stattgefunden hat
      2) Angriff: Auf die Glaubwürdigkeit desjenigen, der darauf aufmerksam gemacht hat und/oder auf das Opfer selbst
      3) Die Rolle von Täter und Opfer umkehren: Argumentieren, dass der Täter das eigentliche Opfer ist, womit er gleichzeitig Victim Blaming betreibt und dabei selbst das Opfer spielt.
      Bsp:
      A: “Hey! Du wolltest meinen Sohn durch euren dubiosen Workshop in euren Kult reinziehen!”
      B: “Was? So ein Unsinn. Du bist ja paranoid! WIR sind nur eine kleine Gruppe Freiwilliger, die sich in ihrer Freizeit für arme Leute einsetzt! DU würdest sie wohl einfach nur wegsperren wollen, wenn du das als etwas schlechtes siehst, was?!”
    • Social Proof: Soziale Bestätigung spielt eine große Rolle beim Bedürfnis des Menschen nach Konformität, Zugehörigkeit und Bestätigung. Gerade in einer neuen Umbegung orientiert man sich oft am Verhalten anderer, um zu wissen, was erwartet wird. In einer vertrauten Umgebung bestätigt dieses konforme Verhalten - in Redewendungen, Gesten, Ritualen, etc. - die Zusammengehörigkeit der Gruppe. Gerade in totalitären Umgebungen kann dieser Faktor als Druckmittel benutzt werden, um konformes Verhalten zu erzwingen und jene bloßzustellen und zu bestrafen, die sich dem nicht beugen - oder nicht genügend Ergebenheit dabei demonstrieren.
    • Struggle session: In den "Umerziehungslagern" Mao Zedongs galt als wirksame Methode eine sog. "Struggle Session", in der Gefangene gemeinsam ihre "Sünden" und "falschen Gedanken" gestehen mussten, wofür sie von ihrem Mitgefangenen kritisiert und zur Rechenschaft gezogen wurden. Daraufhin "half" man ihnen, die "richtigen" Gedanken zu erarbeiten, während es gleichzeitig auch für sie Pflicht wurde, anderen Gefangenen auf die gleiche Art zu "helfen". Im digitalen Zeitalter eröffnen sich durch Social Media & Co. weitaus weitreichendere - und langlebigere Möglichkeiten.
    • Lovebombing: Gerade in der Anfangsphase ist es bei Rekruten und neuen Mitgliedern gang und gäbe, sie mit “Liebe” zu bombardieren, um ihnen das Gefühl zu geben, besonders und erwünscht zu sein. Ihnen wird versichert, wie liebenswert, besonders, schön, klug, talentiert, etc. sind und bei den Neulingen entsteht ein High - das sie später zurückerlangen wollen, wenn das Verhalten und die ehemals “liebevolle” Umgebung plötzlich kippt.
    • Newspeak: Wörter werden wahlweise erfunden, und die Bedeutung gängiger Begriffe werden verändert, sodass sie in der Doktrin des Kultes etwas anderes bedeuten, als für die restliche Gesellschaft “außerhalb” des Kultes. Manche Begriffe werden emotional aufgeladen und zu gedankenterminierenden schwarz/weiß Klischees, die jede weitere Konversation im Keim ersticken. Das kann verwirrend sein und vor allem als Werkzeug zur Täuschung eingesetzt werden, wenn Kultmitglieder mit potenziellen Rekruten sprechen und ihnen mit schönen Worten das Blaue vom Himmel versprechen - während diese Worte innerhalb des Kultes jedoch etwas ganz anderes bedeuten.
      ”(They) share your vocabulary but they don´t share your dictionary” - James Lindsay
    • Phobie Indoktrination: Das ist ein mächtiges Werkzeug, das dazu benutzt wird, um in den Mitgliedern starke Ängste hervorzurufen: Vor der Außenwelt, vor kultfremden Personen und Institutionen, davor, was Schreckliches mit den Mitgliedern passieren würde, sollten sie den Kult verlassen. Das bindet die Mitglieder an den Kult, raubt ihnen die freie Entscheidungsmacht und hält sie davon ab, mit “Außenstehenden” in Kontakt zu treten, die in der schwarz/weißen Welt des Kultes als “unwissend” oder “böse” gelten.


    Quellen
    Bücher
    Steven Hassan - Combating Cult Mind Control: The #1 Best-Selling Guide to Protection, Rescue, and Recovery from Destructive Cults
    Steven Hassan - Freedom of Mind: Helping Loved Ones Leave Controlling People, Cults, and Beliefs
    Robert Jay Lifton - Losing Reality: On Cults, Cultism, and the Mindset of Political and Religious Zealotry
    Robert Jay Lifton - Thought Reform and the Psychology of Totalism: A Study of 'brainwashing' in China

    Youtube Interviews
    Cults: From Tom Cruise to Adolf Hitler | EP 170 Rick Alan Ross
    What is a cult? | Mark Vincente
    Why we helped grow, then destroy the NXIVM Sex Cult
    Prickly People!​
    NXIVM Sex Cult: Top Recruiter Speaks Out ft. Sarah Edmondson

    Websites
    Mark Vincente - What is a Cult?
    Freedomofmind.com - BITE Modell
    Freedomofmind.com- Cult mind control
    Freedomofmind.com - Influence Continuum
    Verywellmind.com - Protecting yourself from DARVO
    Verywellmind.com - Gaslighting
    Zuletzt geändert von Rhagrim; 19.10.2023, 12:41.
    “No tree can grow to Heaven unless it’s roots reach down to Hell.”
    - C.G. Jung
  • Yamuri
    Kaffeejunkie
    • 04.09.2023
    • 337

    #2
    Sehr spannend. Muss ich mir mal genauer durchlesen. Im Grunde wird ja nicht nur in Kulten so gearbeitet. Jede Form von Gehirnwäsche-Versuch funktioniert so. Also man kann das auch schön auf Thriller/Krimis mit Entführungs- und Folter-Thematik übertragen, bei denen es gar nicht um größere Gruppen geht sondern darum, dass eine Einzelperson versucht die absolute Kontrolle über jemanden auszuüben und denjenigen dahingehend zu manipulieren, dass er tut, was die Person will.

    Kommentar

    • Yamuri
      Kaffeejunkie
      • 04.09.2023
      • 337

      #3
      Eigentlich wäre das Folgende passend, um es anderorts zu teilen, aber das traue ich mich nicht. Ich möchte gerne meinen Seelenfrieden erhalten. Daher teile ich meine Erfahrungen zum Thema Kulte und Sekten hier:

      In meiner Schulzeit hatte ich einen Schulkollegen, den ich eigentlich sehr mochte. Ich glaube, er mochte mich auch. Wir hatten ein paar, wenn auch nur sehr wenige, schöne Gespräche. Diese Gespräche fanden aber immer nur unter zwei Augen statt. Sobald jemand bemerkte, dass er mit mir redet, hat er ganz schnell darauf geachtet, dass es so wirkt, als habe er gar keinen Kontakt zu mir.
      In einer Woche, als unsere Schulklasse einen Ausflug machte und in einem Landschulheim übernachtete, erzählte er eines Abends davon, dass er zu einer satanischen Sekte gehört hat. Mir, unter zwei Augen, sagte er mal, dass er nicht verstehen könne, weshalb manche Mädchen da mitmachen, weil das, was ihnen angetan wird nicht in Ordnung sei. Er sagte mir auch, dass er ausgetreten ist aus der Sekte, aber, dass einer unserer Klassenkameraden noch in der Sekte ist und ihn beobachtet.
      Daraufhin habe ich mehr darauf geachtet, wie er sich mir gegenüber verhält und mir ist aufgefallen, immer wenn dieser andere in die Nähe kam, tat er so, als habe er gar keinen Kontakt zu mir.
      Was ich mit der Geschichte verdeutlichen will -> Sekten operieren tatsächlich so, dass man nicht auf den ersten Blick merkt, dass sie überhaupt existiert. Dieses geheimnisvolle, verschwörerische, das ist durchaus real. Allerdings sind sie für den Normalsterblichen an sich keine große Gefahr. In der Regel wird man nicht einfach so eingeweiht. Man muss schon Interesse zeigen, wobei dieser Aussteiger in meiner Klasse quasi gewarnt hat vor der Sekte, aber immer nur dann, wenn besagtes anderes Mitglied nicht in der Nähe war.
      Im Landschulheim war besagtes Noch-Mitglied auch nicht dabei.

      Ein zweiter Fall, bei dem ich direkt mit einer Sekte in Berührung kam, war, als ich nach Wien zog. Ich war auf Wohnungssuche und eine Dame ließ mich bei sich übernachten. Sie war super freundlich und nett. Ich konnte mich sehr gut über spirituelle Themen mit ihr unterhalten. Sie hatte auch eine Tochter, ebenfalls sehr nett. Die Tochter sagte, als ich mir Abends mein Bett herrichtete dann ganz nebenbei, dass ihre Mutter bei Scientology ist. Ich hätte mit sowas nicht gerechnet. Und ja, ich dachte mir in dem Moment - all die Gerüchte über Scientology seien falsch. Ich dachte mir, das ist doch nur Panikmache und Quatsch, was über Scientology verbreitet wird. Scientologen sind nette Menschen. Jedenfalls war ich neugierig und sie sehr freigiebig mit Inhalten zu Scientology. Sie war wohl schon länger dabei und bereits in einer höheren Position. Sie wollte mir gleich eine Menge Bücher schenken, die ich gar nicht alle hätte transportieren können. Jedenfalls bin ich froh, dass ich in eines reingeblättert habe. Denn was ich darin las, hat mich davon überzeugt, dass Scientology alles andere als nett ist und ich habe am nächsten Morgen alles, was sie mir schenken wollte, rigoros abgelehnt. Sie haben sich nie mehr bei mir gemeldet.
      Auch das zeigt -> man sieht einem Menschen nicht an, ob er in einem Kult oder einer Sekte ist. Das sind Menschen wie du und ich, Menschen mit denen man sich sogar ganz toll unterhalten kann. Weil genau das ihre Masche ist. Sie wickeln dich um ihren Finger, in der Hoffnung dich damit einwickeln zu können.

      Ein weiteres Beispiel mit Sekten. Mein Onkel war in einer Sekte. Er wurde komplett isoliert. Zeitweise wusste seine Familie nichtmal wo er ist. Er war dieser Sekte komplett hörig, hat all seinen Besitz hergegeben und sich denen verschrieben. Als er irgendwann doch den Absprung geschafft hat, gab es eine Weile Terroranrufe von der Sekte, bevor sie ihn in Ruhe ließen und verstanden, dass er nicht zurückkommt. Er hat nie eine Therapie deswegen gemacht. Ich denke aber, es hat Spuren hinterlassen. Auch das zeigt, Sekten operieren eben im Geheimen und nicht so offenkundig, dass die Wissenschaft sie sofort als solche entlarven kann. Und ja, Sekten sind gefährlich. Man muss sie nicht dämonisieren und als Weltübel bezeichnen, aber man sollte sie nicht unterschätzen.

      Bei manchen Personen denke ich mir - das sind Menschen, die reinfallen würden, so leichtfertig wie sie darüber schreiben. Sie würden reinrasseln, weil sie unvorsichtig sind und Sekten unterschätzten. Ich denke die Gehirnwäsche Methoden sind subtiler, als oben beschrieben und die Hardcore Sachen erleben eher diejenigen, die versuchen auszusteigen, nicht diejenigen, die Interesse haben. Und ja, es sind eingeschworene Gemeinschaften, über die Normalsterbliche nicht einfach so alles erfahren. Daher ist es ähnlich wie mit den chinesischen Triaden unglaublich schwierig vertrauenswürdige und wissenschaftliche Befunde zu sammeln.

      Tatsächlich finde ich das Thema Sekten und Kulte sehr interessant. Generell finde ich Religionen und spirituelle Gemeinschaften spannend. Mit den Zeugen Jehovas beispielsweise kann man sich auch gut unterhalten. Es ist auch nicht jede Sekte grausam zu ihren Mitgliedern. Das Aussteigen muss also nicht immer mit Schmerz und großen Problemen behaftet sein. Der Klassenkamerad von mir konnte auch einfach so aussteigen. Er wurde dann nur beobachtet, damit er wohl keine Informationen ausplaudert, die nur für Sektenmitglieder bestimmt waren. Vielleicht war er aber auch nie tief genug drin und daher ging es leichter. Man weiß es nicht.

      Ich würde Sekten und Kulten jedenfalls nicht verharmlosen und unterschätzen. Ich würde sie aber auch nicht als Staatsfeind Nr. 1 bezeichnen, sondern lediglich zur Kenntnis nehmen, dass es Kulte und Sekten gibt, dass manche radikaler sind, andere weniger, manche geheimnisvoller, andere offener, usw.​

      Kommentar

      • Niam
        Redakteur
        • 05.09.2023
        • 81

        #4
        Rhagrim, du hast das sehr übersichtlich zusammengefasst und dir sichtlich wahnsinnig viel Mühe gemacht! RESPEKT!!!

        Ich bin überzeugt, jeder Mensch möchte wahrgenommen, respektiert, akzeptiert und geliebt werden. Wenn dieses Gefühl "gewollt und geschätzt" nicht oder nur ungenügend befriedigt wird, wendet man sich Jemand zu, der einem genau dieses vermisste Gefühl vermittelt und vielleicht gleich noch ein Vorbild und ein Ziel dazu. Der Mensch ist im Grunde ein Gruppentier, nur sehr wenige ziehen die Einsamkeit langfristig vor und sind damit glücklich und zufrieden.

        Und das ist, denke ich, auch ein wichtiger Kernpunkt, an dem die "Rekrutierer" einer Glaubensrichtung andocken. Verständnis zeigen, dem Gegenüber das Gefühl von "Ich bin WICHTIG!" geben, zeigen, dass es viele andere Menschen gibt, die ebenfalls "verloren" oder "auf der Suche" waren und jetzt - durch diesen Gott/die Vorhersehung/das Schicksal - zusammengefunden haben und eine glückliche Gemeinschaft geworden sind. Aber nicht nur eine Gemeinschaft sondern "DIE GEMEINSCHAFT" die nur auf DICH gewartet hat. DU bist das fehlende Glied, das die Gruppe aufwertet, besser macht...

        Wenn man in frühere Kulturen blickt, gab es immer diverse Glaubenrichtungen und Götter, welche gewisse Regeln vorgegeben haben und Priester, Schamanen und andere Gottesdiener, die für die Aufgabe lebten, diese den Gläubigen (und meistens auch Ungläubigen) kundzutun und die Gesetze oder Anordnungen ihrer Götter, wie auch die festgelegten Strafen durchzusetzen.
        Kann der Oberpriester dann noch mit viel Charisma und Führungspersönlichkeit aufwarten, spricht er nicht selten ein Areal im menschlichen Gehirn an, das dieses Gruppenbedürfnis triggert.
        Und mal Hand auf's Herz - über die Gefühlsschiene lassen wir uns so leicht manipulieren - viel zu oft, ohne dass wir es selber merken.

        Ich denke dieser Startpunkt ist überall sehr ähnlich bzw. gleich - ob es sich um eine Religion oder eine Sekte handelt.
        Anführer/Priester die behaupten zu wissen, was Gott will und mit Hilfe ihrer untergeordneten "Hauptmänner" diese Anordnungen durchsetzen.
        Menschen, die auf der Suche nach einem Vorbild/Anführer/Wissenden und Freunden/Gleichgesinnten/Gruppe sind, die ihnen das Gefühl geben, verstanden, geliebt und gewollt zu sein. Mitglieder, die auf genau diese Bedürfnisse eingehen und ihnen Sinn, Rettung usw. versprechen. Um dieses Gruppenbedürfnis zu befriedigen sind diese Menschen auch bereit sich Dinge schönzureden. (Wie man das vielleicht auch schon in einigen Situationen selber gemacht hat um sich besser zu fühlen. Wir Menschen können das sehr gut ) Andere sind vielleicht in so ein System hineingeboren und kennen es nicht anders. Ich glaube, nur wenige Menschen sind im Stande, sich aus solchen Gruppen (auch emotional komplett und ohne Schäden) zu lösen.

        Ich frage mich immer wieder so nebenbei, ab wann man man eine Gruppe als Sekte bezeichnen soll/kann/muss und wo denn nun eigentlich der Unterschied zwischen einer Religion, einer Sekte und einer Gang liegt.
        An der Menge der Menschen, die diese Gruppe um sich versammelt? Daran, ob sie gewaltfrei agiert oder strenge Regeln hat und diese auch mal gewaltsam durchsetzt? Daran, dass sich die Menschen freiwillig engagieren und jederzeit aussteigen können? Daran, welche Macht die/der Führer der Gruppierung in sich vereint bzw. vereinen? Oder weil ein paar mächtige Politiker oder die Medien die besagte Gruppe in ihren Reden entweder als Religion oder eben als Sekte bezeichnen? Kann sich der Status z. B. von einer Sekte und zu einer Religion verändern oder umgekehrt? Wenn ja, bleiben auch die Fragen offen wie z.B: "wann", "warum" und "wie".

        Kommentar

        • Yamuri
          Kaffeejunkie
          • 04.09.2023
          • 337

          #5
          Und das ist, denke ich, auch ein wichtiger Kernpunkt, an dem die "Rekrutierer" einer Glaubensrichtung andocken. Verständnis zeigen, dem Gegenüber das Gefühl von "Ich bin WICHTIG!" geben, zeigen, dass es viele andere Menschen gibt, die ebenfalls "verloren" oder "auf der Suche" waren und jetzt - durch diesen Gott/die Vorhersehung/das Schicksal - zusammengefunden haben und eine glückliche Gemeinschaft geworden sind. Aber nicht nur eine Gemeinschaft sondern "DIE GEMEINSCHAFT" die nur auf DICH gewartet hat. DU bist das fehlende Glied, das die Gruppe aufwertet, besser macht...​
          Damit beschreibst du ziemlich genau den Grund, weshalb mein Onkel damals in die Sekte hineinrutschte. Er war als junger Mann zum ersten Mal allein in einer großen Stadt, weit weg von der Familie, kannte keinen und suchte im Grunde einfach nur Anschluss, Freunde, eine Gemeinschaft. Er geriet an die falschen Leute und rutschte so in die Sekte rein. Sie haben ihm das Gefühl gegeben dazuzugehören, Teil einer Familie zu sein. Würde also sagen, deine Beschreibung trifft es recht gut auf den Punkt.

          Bei mir hatten es da Sekten von Haus aus schwerer, weil ich es gewohnt war in einer Umgebung, außerhalb der Familie, allein zu sein. Durch meine Schulzeit war ich ein ziemlicher Einzelgänger und hatte kein Problem damit mich allein durchzuschlagen. Was mich fast in die Hände dieser Sekte getrieben hätte, war dann eher meine Neugierde. Mich interessieren und faszinieren einfach alle Religionen und Glaubensrichtungen, allerdings ohne, dass ich Mitglied werden möchte. Ich sammle nur Wissen und weil ich alles wissen möchte, interessiert mich, was diese Leute denken. Mit den Zeugen Jehovas hatte ich auch schon Gespräche. Da fragte ich mich allerdings nach einer Weile, wer jetzt gerade wen zu bekehren versucht. Denn im Gespräch begannen die beiden auf einmal ganz andächtig mir zuzuhören und nur noch zu nicken. Das war sehr kurios.

          Also ich glaube was die Begriffe Sekte und Gang anbelangt - Sekte wird einfach eher für religiöse Gruppierungen verwendet und Gang für die Unterwelt. Aber mafiöse Strukturen haben auch etwas eingeschworenes, wie Sekten. Und in der Regel kommt man da nur raus, wenn man stirbt.

          Kommentar

          • Rhagrim
            Moderator
            • 03.09.2023
            • 388
            • Staring down the Abyss

            #6
            Ich hab wieder recherchiert.
            • Alexandra Stein - Terror, Love and Brainwashing (Titel klingt etwas dramatisch und die Autorin wiederholt ihre Grundaussage so oft, dass das Buch auch ein Drittel kürzer hätte sein können. Aber ihr Ansatz ist spannend, da es darum geht, wie Kulte oder kultische Beziehungen den Bindgunsstil einer Person "überschreiben" und durch einen unsicheren Bindungstyp ersetzen. Mehr dazu unten )
            • Alexandra Stein - Inside Out (Bericht der Autorin über ihre Zeit in einem politischen Kult, in den sie in den 1960er Jahren hineingeraten ist. Manchmal ein bisschen langatmig, weil sie sich gern in nebensächlichen Details verliert, aber ansonsten extrem interessant, weil sie ihre Erzählung mit Lifton´s 8 Kriterien der Gedankenreform ergänzt und aufzeigt, wie diese in dem Kult angewandt wurden. Außerdem fügt sie immer wieder Auszüge aus ihren damaligen Tagebucheinträgen hinzu, wodurch man einen sehr spannenden, intensiven Einblick erhält, wie es ihr ergangen ist. Sehr empfehlenswert!)
            Leider gibt es die Bücher nur auf Englisch. Ich erzähle euch mal, was ich so gelernt habe, in diesem Sinne:


            Kulte, Part II: Die toxische Beziehung in kultischen Umgebungen


            Vorweg: Was ist ein Bindungsstil?
            In der Bindungstheorie wird davon ausgegangen, dass das Verhältnis eines Kindes zu seinen primären Bezugspersonen (also meistens die Eltern) seinen späteren Bindungsstil bestimmt:
            • Sicherer: Diese Kinder durften angstfrei und in dem Vertrauen aufwachsen, dass auf ihre Ängste und Bedürfnisse Rücksicht genommen wird. Ihre Bezugspersonen bilden einen "sicherer Hafen", von dem aus sie die Welt erkunden - und zu dem sie in Gefahrensituationen auch jederzeit zurückkehren können. Dadurch entwickeln sie ein gesundes Selbstvertrauen und die Fähigkeit zu lieben und Liebe anzunehmen, zu vertrauen; Nähe und Intimität zuzulassen etc.
            • Ängstlich: Der ängstliche Bindungsstil entwickelt sich, wenn die Bezugspersonen unzuverlässig und unberechenbar sind - mal überschütten sie das Kind mit Lob, mal ignorieren sie es. Mal sind sie zuverlässig und liebevoll, mal unzuverlässig und abweisend. Das Kind kann sie nicht einschätzen, nicht verstehen und kein Vertrauen entwickeln. Dadurch entwickeln sich später Verlustängste und der Drang nach immerwährender Bestätigung, bzw. die Neigung zu "klammern".
            • Vermeidend: Durch Bezugspersonen, die sehr streng, emotional distanziert oder z.B. einfach nie wirklich da sind, kann sich der vermeidende Bindungsstil entwickeln. Dieser zeichnet sich durch einen großen Drang nach Freiheit und Selbstbestimmtheit aus. Es fällt extrem schwer , Nähe und Intimität zuzulassen, zu vertrauen, oder fixe Bindungen einzugehen (u.a. kann es dazu kommen, dass Beziehungen beendet werden, sobald sie zu "eng" oder zu intim werden)
            Diese drei Bindungsstile gehören zu den "organisierten" Stilen - sie sind bis zu einem gewissen Grad berechenbar. Dann gibt es noch einen vierten, der für uns auch der relevante sein wird:
            • Der desorganisierte aka "ängstlich vermeidende": Dieser ensteht meist durch Kindheitstraumata, Missbrauch oder extreme Vernachlässigung. Das Kind bekommt Angst vor den Bezugspersonen und daraus resultiert der extreme, innere Konflikt: Das Bedürfnis nach Nähe/Liebe und der gleichzeitigen Angst davor. Es wird extrem schwierig, Vertrauen aufzubauen oder (romantische) Beziehungen einzugehen und der Betroffene schwankt zwischen dem Drang, Nähe zu suchen und diese von sich zu stoßen, wenn sie ihm zu gefährlich erscheint.
              Denn: gerade die Bezugsperson ist diejenige, das Bedürfnis nach Liebe/Nähe/Anerkennung - und gleichzeitig die Furcht in dem Betroffenen weckt.

            Wichtig: Bindungsstile können sich verändern - durch die Beziehung zu den Eltern, Freundschaften oder Mobbing in der Schule, durch die Beziehung zu späteren Partnern, uvm.
            Darauf baut die These auf, dass Kulte den ursprünglichen Bindungsstil einer Person "überschreiben" und ihn mit einer desorganisierten Bindung an den Kult bzw. den Kultanführer binden.
            Mir gefällt diese These, weil sie im Grunde leicht verständlich und praktisch auf alle ähnlichen Dynamiken anwendbar ist: Kulte und kultische Umgebungen, manipulative bzw. toxische Beziehungen, uvm. Es wird offensichtlich, dass sich diese in ihrer Vorgangsweise und Dynamik nicht wirklich voneinander unterscheiden - was uns als Autoren ein praktisches Tool in die Hand gibt, um so etwas zu schreiben... und als Privatpersonen ein super Hilfsmittel, um uns besser davor zu schützen.



            Egal, wer du bisher warst - jetzt wirst du neu geformt

            Obwohl ein sicherer Bindungsstil einen gewissen Schutz zu bieten scheint, ist er nicht kugelsicher - Egal, wer du bist und welchen Bindungsstil du hast - zur richtigen Zeit, am richtigen Ort und unter den richtigen Umständen kann es jeden treffen. Denn niemand schließt sich willentlich und wissentlich einem "Kult" an - wohl aber z.B. Gruppenaktivitäten seines Freundeskreises, einer Studentengruppe, einer vielversprechenden Therapie, einer politischen Organisation oder gar einer Selbsthilfegruppe für Drogensüchtige. Kulte präsentieren sich der Welt nicht als "Kult" und in ihren Programmen, mit deren Hilfe sie neue Leute rekrutieren, ist meist erst einmal nichts von der wahren Agenda zu erahnen. Erst nach und nach werden neue Rektruten langsam darauf vorbereitet und mit "Wahrheiten", "schädlichen Glaubens- und Verhaltensmustern" und "Wege zur Selbstverbesserung" konfrontiert.
            Der ganze Prozess lässt sich kurz und knapp zusammenfassen:

            Kulte und kultische Beziehungen täuschen dich durch ihre Propaganda und vermitteln dir das Gefühl, sie hätten "den Weg" gefunden (zum finanziellen Erfolg, zur Heilung deiner Krankheit, zu einer glücklichen Liebe, um zu Gott zu finden, um die Gesellschaft/Umwelt/Unterdrückten zu retten, etc.). Daraufhin isolieren sie dich von der Außenwelt und ehemaligen Bezugspersonen, deren Einfluss als toxisch, gefährlich, sündig, hasserfüllt, etc. bezeichnet wird. Gleichzeitig etablieren sie sich dabei als der einzige neue "sichere Hafen", die einzige, neue "Bezugsperson" an die du dich wenden kannst (und darfst), wenn du Ängste, Unsicherheiten, Fragen etc. hast. Da diese "Bezugsperson" jedoch ein totalitärer Kult(anführer) ist, der nicht an deinem Wohlergehen interessiert ist und keinen Zweifel an seiner "Wahrheit" duldet, wirst du niemals die Bestätigung, Sicherheit und Anerkennung finden, die du suchst. Die "Liebe" ist an anspruchsvolle, unerfüllbare Bedingungen geknüpft. Somit entsteht eine Spirale aus unerfüllter Sehnsucht und Furcht, die den Betroffenen an seine neue Bezugspersonen bindet. Gleichzeitig schottet sie jeden "schädlichen Einfluss von außen" ab, der dem Betroffenen alternative Beziehungen - und somit einen eventuellen "Weg hinaus" aufzeigen könnte.

            1) Die Rekrutierung
            Durch Propaganda und, besonders bei größeren Kulten, mithilfe ihrer "Frontgruppen", die nach außen hin nichts mit dem Kult zu tun haben, werden Mitglieder rekrutiert. Dabei kommen sie erst einmal noch gar nicht mit der "wahren Agenda" in Berührung und sie werden auch noch nicht isoliert. Sie finden neue Freunde, Unterstützung, Bestätigung und werden in der neuen Umgebung aufgenommen.
            Im Gegensatz zu "legitimen" Gruppierungen achten Kulte dabei besonders darauf, sie dazu zu ermutigen zu bleiben, den Kontakt zu vertiefen, irgendwelche weiterführenden Programme oder (mehrtägige) Kurse zu absolvieren, oder an Gruppenaktivitäten teilzunehmen und sich zu engagieren.
            Die Propaganda enthält dabei grundsätzlich einen wahren Kern, der sich in der "echten Welt" oder der Realität des Betroffenen widerspiegelt und sie dient dazu, diesen "aufzuweichen" bzw. auf den späteren Indoktrinationsprozess vorzubereiten.
            Das ist die anziehende Phase des Lovebombings - auch in manipulativen Beziehungen (dem Kult aus einer Person), in welcher der Betroffene "neue Freunde", "die große Liebe", "eine wunderbare Community" etc. findet, in der zunächst einmal alles wunderbar scheint.


            2) Isolation und Indoktrination
            "Der schrecklichste Aspekt von [totalitärem] Terror ist, dass er die Macht hat, komplett isolierte Individuen aneinanderzubinden und sie dadurch noch weiter zu isolieren.
            Denn nur isolierte Individuen können vollständig beherrscht werden."
            - Hannah Arendt​
            Wird man tiefer in die Dynamiken des Kultes hineingezogen, begitt ein Kreislauf aus Indoktrination, Isolation und Kontrolle. Die Isolation von der Außenwelt, bestehenden Beziehungen (Freunde, Familie, etc.) und letztlich auch von dem eigenen Selbst (und den eigenen freien Gedanken, Zweifeln und Meinungen) wird auf verschiedene Arten erreicht, unter anderem:
            • Isolation durch Weiterbildungen, Therapien, Seminaren oder Workshops, die in einer geschlossenen Umgebung stattfinden und durchgetaktet sind mit "Programm", das kaum Zeit lässt, um in Ruhe über alles nachzudenken. Solche Indoktrinations-Sessions gehen oftmals einher mit Schlafentzug und völliger Überforderung des Betroffenen, der mit mehr Information konfrontiert wird, als er verarbeiten kann und dadurch ab einem gewissen Punkt aufhört nachzudenken und stattdessen zu akzeptieren.
            • Isolation durch Arbeit, Gruppenaktivitäten, Aktivismus, Schulungen (uvm.) der die Freizeit des Betroffenen völlig ausfüllt und dadurch kaum Zeit lässt, bestehende Freundschaften oder Familienverhältnisse zu pflegen, oder eigenen Hobbies nachzugehen.
            • Isolation von Freunden und Familie, indem deren Einfluss als schädlich, toxisch, sündig, unterdrückend, hasserfüllt oder als Behinderung der eigenen Weiterentwicklung angesehen wird. Kontakt zu vermeiden oder abzubrechen wird gefördert, um störende Einflüsse "von außen" zu minimieren.
            • Isolation von Informationen der Außenwelt, ganz besonders Informationen, welche die eigene Gruppierung kritisieren: Solche Informationen gelten als Propaganda, Lügen, Hetze, Hassreden, Missinformationen und - wie auch immer sie bezeichnet werden - als schlechter Einfluss, der eine Gefahr für einen selbst oder die Gruppe und das höhere Wohl darstellt, dem sie sich verschrieben hat.
            • Isolation von sich selbst, indem die eigene Wahrnehmung und die eigenen Gedanken und Zweifel mehr und mehr von dem Dogma und der "Wahrheit" des Kultes überschrieben werden und Zweifel, sowie Kritik oder Fragen meist auf einen selbst zurückgeworfen werden und dabei die Schuld gleich mit auf den Fragesteller verlagern. (z.B. "Was in dir reagiert gerade so heftig auf dieses Thema? Siehst du nicht, dass deine Reaktion doch nur der Beweis dafür ist, dass du an xy noch härter arbeiten musst und du noch nicht so weit bist?") Durch diese Gaslighting Taktik verliert man mehr und mehr das Vertrauen in die eigene Wahrnemung und beginnt mit der Zeit, seine eigenen Zweifel als Schwäche zu sehen.
            • Isolation von anderen Gruppenmitgliedern: Für ehrliche, tiefgehende Beziehungen ist innerhalb eines Kultes kein Platz, da jegliche Anerkennung und "Liebe" an Bedingungen geknüpft ist. Andere Mitglieder sind oberflächlich betrachtet Mitstreiter und Kameraden, die für dieselbe Sache kämpfen. Man bestärkt sich gegenseitig, hilft sich "zu wachsen" oder sich zu "verbessern", indem z.B. "falsche Gedanken", "persönliche Schwächen", "alte Gewohnheiten", "internalisierte Glaubenssätze" etc. schonungslos kritisiert werden. Das macht einen offenen Dialog, in dem eigene Meinungen geteilt und diskutiert werden können, nahezu unmöglich und die wachsende Angst vor den Konsequenzen lässt die Betroffenen schweigen - und isoliert sie voneinander.

            "In einem totalitären System sind keine Unterschiede erlaubt - alle sind dazu gezwungen, ein einziges Set von Ansichten, Zielen und Verhaltensweisen zu haben. Wenn nur eine einzige Sichtweise und nur eine einzige "Wahrheit" erlaubt sind, gibt es keinen Grund mehr für Konversation - denn wir stimmen doch schon in allem überein und erleben alles auf die selbe Art und Weise. Worüber soll man sich noch unterhalten?" - Alexandra Stein - Terror, Love and Brainwashing​
            Da das Thema "Geheimhaltung" oder "Sicherheitsvorkehrungen" in Kulten eine große Rolle spielt, ist es Mitgliedern nicht erlaubt, Informationen nach "außen" zu tragen - um Zweifel und Sorgen zum Beispiel mit Freunden oder Familie zu besprechen. Somit bleiben nur jene, die ebenfalls mit "eingeweiht" sind - die sich natürlich in derselben Lage befinden, wie man selbst und nur das Dogma des Kultes bestätigen und verstärken (dürfen). Dazu kommt, dass in den meisten Kulten großer Wert auf "Geständnissessions" Wert gelegt wird, in denen Mitglieder ihre eigenen Schwächen offenlegen oder kritisieren müssen - dieses Wissen wird von dem Kult als weiteres Mittel zur Kontrolle benutzt, um seine Mitglieder zu manipulieren und enger an die Gruppe zu binden.


            3) Die desorganisierte Bindung an den Kult
            Der Kult erschafft durch die Isolation und Indoktrination eine Atmosphäre der permanenten Anspannung und Angst, welcher der Betroffene nun nicht mehr entkommen kann, da er die Außenwelt als gefährlich oder toxisch wahrnimmt und er seine bisherigen Beziehungen oftmals überwiegend abgebrochen hat. Der einzige, an den er sich wenden kann ist: der Kult(anführer), der sich in dem Prozess selbst als "sicherer Hafen" und als einzige "Bezugsperson" etabliert hat - derjenige, der beschützt und dem Betroffenen "hilft", seine Zweifel und Ängste zu überwinden. Das verstärkt die Bindung des Betroffenen an den Kult(anführer), wodurch sich ein positiver Feedback-Loop aus Furcht und Abhängigkeit, aus Fluchtdrang und dem Suchen nach Nähe in Gang setzt - da derjenige, vor dem der Betroffene insgeheim (und womöglich unbewusst) fliehen will ausgerechnet derjenige ist, bei dem er Schutz und Nähe sucht.

            Ein derartiger Zustand des "Terrors" (= Ein Zustandes chronischer Angst ohne Fluchtmöglichkeit - deshalb auch der Titel des Buches) kann einerseits zu PTBS (Posttraumatischer Belastungsstörung) führen und andererseits zu einem Zustand der Dissoziation, einer Art "psychischer Flucht", da ein physisches Entkommen aus der Situation nicht möglich ist.
            In diesem dissoziierten Zustand verliert der Betroffene den Bezug zu seiner Umgebung, sowie zu dem eigenen Selbst - seinen Gedanken, Gefühlen, seinem Körper, der eigenen Identität und den eigenen Taten. In diesem Zustand fühlt er sich oftmals wie betäubt, verfügt nur mehr über ein eingeschränktes Set an Emotionen, verringerte Empathiefähigkeit und wird nachgiebig und willfährig - und somit leicht zu beherrschen. Da der betroffene in diesem Zustand selbst nicht mehr in der Lage ist, seine Gedanken und Gefühle richtig zu interpretieren, übernimmt diese Aufgabe der Kult(anführer), indem er "Ersatz" anbietet: Erklärungen, Lösungen und "korrekte Emotionen" und Verhaltensweisen, die in bestimmten Situationen gezeigt werden müssen. In diesem dissoziierten Zustand kann der Betroffene auch dazu gebracht werden, Taten zu begehen, die er "normalerweise" niemals begehen würde - selbst wenn diese seinem eigenen Überlebenstrieb entgegengehen.

            Dieser Zustand der Dissoziation ist dabei nicht umfassend - d.h. nicht in allen Lebensbereichen präsent, sondern er bezieht sich nur auf die desorganisierte Beziehung zum Kult(anführer), was erklärt, warum der Betroffene nur in diesem Bereich "blind" für seine Situation ist und unfähig, rational darüber nachzudenken, während er in anderen Bereichen hoch kompetent erscheinen kann.

            Dieser traumatische Zustand kann selbst, wenn der Betroffene es schafft, sich aus dieser Beziehung zu lösen und der kultischen Umgebung zu entfliehen, noch Jahre und Jahrzente später getriggert werden und es ist ein schwieriger, langwieriger Prozess, das Trauma aufzuarbeiten und die "Ketten" nach und nach wieder abzustreifen, die einem in einem ausgefeilten Prozess hochgradiger Manipulation angelegt wurden.



            Das wars. Ich hoffe, es war interessant und hilfreich. Vielleicht mach ich mal einen dritten Part über den Prozess der Befreiung - also wie man jemanden aus einem Kult wieder herausbekommt und die Schwierigkeiten des Betroffenen, der Wochen, Monate, Jahre oder Jahrzehnte der Manipulation und der traumatischen Beziehung hinter sich hat.
            (Wie immer erhebe ich keinen Anpruch drauf, dass all das hier zu 100% korrekt ist und so weiter... ich hab´s recherchiert und nach bestem Wissen und Gewissen auf hoffentlich leicht verständliche Weise zusammengefasst. Ich fand den Ansatz der desorganisierten Beziehung in kultischen Umgebungen spannend, weil es sich so leicht auf manipulative bzw. toxische Beziehungen im allgemeinen anwenden lässt und zeigt, warum es für Betroffene so schwierig ist "einfach zu gehen". Ich glaube, es könnte helfen, solche Dynamiken besser zu verstehen, zu erkennen - und natürlich auch zu schreiben.)
            “No tree can grow to Heaven unless it’s roots reach down to Hell.”
            - C.G. Jung

            Kommentar

            Lädt...