Rezensionen - Ein Blick hinter die Bewertungskriterien von Buchbesprechungen

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  • Niam
    Redakteur
    • 05.09.2023
    • 81

    Rezensionen - Ein Blick hinter die Bewertungskriterien von Buchbesprechungen

    Buchbesprechungen sind oft ein zweischneidiges Schwert. Sie können ein Segen sein, weil sie die eigene Arbeit würdigen und pushen, sie können aber auch negativ oder gar vernichtend ausfallen und den Autor fassungslos und enttäuscht zurücklassen. Natürlich fragt er sich dann:

    Warum wurde mein Buch so und nicht anders bewertet? Und wie fair sind Rezensionen eigentlich?
    In vielen Fällen sind Rezensenten selbst begeisterte Leser und geben ihre persönliche Meinung zum Buch/Hörbuch/Film… in unterschiedlicher Länge und Form wieder. Natürlich unterscheiden sich Rezensionen auch im Aufbau und im Stil - je nachdem in welchem Medium sie veröffentlicht werden sollen. Eine Buchrezension z. B. auf Amazon wird sich mit großer Wahrscheinlichkeit anders lesen, als eine Buchbesprechung in einem Literaturportal oder in einer (Technischen) Zeitschrift, da sie auch unterschiedliche Leser ansprechen soll.


    Was sind nun die vorrangigsten Kriterien bei einer Buchbesprechung?
    Bei einer Buchbesprechung ist (zumindest mir) natürlich zuerst der Plot, die „rote Linie“, die Handlung enorm wichtig.
    - Was soll mir die Geschichte eigentlich sagen? Ist sie überzeugend und „logisch“ aufgebaut?
    - Ist der Handlungsablauf bis zum Ende klar ersichtlich und nachvollziehbar?
    - Agieren die Figuren charaktergemäß, im Rahmen ihrer Fähigkeiten und glaubwürdig oder haben sich die Figuren zwischendurch selbstständig gemacht?
    - Folgt der Autor seinem Plot oder hat er sich in Nebensächlichkeiten und Nebenschauplätzen verstrickt?
    - Und - nicht zu vergessen - führt die Geschichte zu einem zufriedenstellenden, überzeugenden Ende.


    Die Storyline
    Natürlich sollte es keine schnurgerade Linie von A nach B sein, das wäre ja enorm langweilig, eintönig und nicht wirklich ansprechend.
    Spannende Umwege, herbe Rückschläge, unerwartete Schicksalsschläge oder andere glaubhafte Katastrophen und „Zufälle“, die in die Geschichte passen und sie weiterbringen, halten den Spannungsbogen hoch und die Leser „bei der Stange“. Dennoch sollte das Ende der Geschichte dann bei dem angepeilten B landen und sich nicht verzetteln, verlaufen und zerbröseln.Somit ist es ein wichtiges Kriterium, ob die Grundidee der Handlung oder auch des jeweiligen Sachthemas vom Beginn bis zum Ende gut erkennbar und ernsthaft durchgezogen wird.


    Stil und Sprache
    Ein wichtiger Punkt ist dann natürlich auch der Schreibstil und die gewählte Sprache.
    Ein Sachbuch wird natürlich etwas anders geschrieben als ein Roman und da gibt es die unterschiedlichsten Herangehensweisen der verschiedenen Autoren.
    Gerade in der Belletristik ist es für die Rezensenten oft nicht einfach komplett „neutral“ zu kommentieren, da natürlich auch jeder Rezensent seinen eigenen Lesegeschmack hat. Einige lieben Geschichten, die in der „Ich-Form“ geschrieben sind, andere bevorzugen „Er/Sie/Es“, ich habe sogar schon Erzählungen gesehen, die in der „Du-Form“ geschrieben waren.


    Vergangenheit, Gegenwart und die gemeinen Rückblenden
    Ob Vergangenheits- oder Gegenwartsform, flott erzählt oder akribisch genau beschrieben… Jeder Rezensent bevorzugt etwas anderes und bewertet ein Buch natürlich nach seinen eigenen Kriterien, wobei es natürlich hilfreich ist, schon im Vorfeld in die Leseproben hineinzulesen um einen ersten Einblick zu gewinnen, ob das Buch der eigenen Vorstellung entspricht oder nicht.
    Ich selbst kann beispielsweise lange Rückblenden absolut nicht ausstehen und – ich gebe es unumwunden zu – wenn ein Buch mit einem spannenden Kapitel beginnt und kurz darauf mit „Vor drei Jahren“ weitermacht (und diese Rückblende dann womöglich den größten Teil oder sogar den Rest des Buches einnimmt) erlischt mein Interesse an dem Buch nahezu sofort. (Zum Glück gibt es die segensreiche Erfindung der Leseproben. Sofern also die Leseprobe gleich mit einer Rückblende ausgefüllt ist, muss mich das Thema schon enorm reizen, dass ich das Buch anfrage und lese.)


    Protagonisten, Antagonisten, Witwen und Waisen
    Einen ganz wichtigen Punkt nehmen natürlich die Figuren ein.
    - Wie werden die Figuren eingeführt?
    - Sind sie glaubwürdig, sympathisch, hassenswert,… Kurz - wecken sie Gefühle in den Lesern?
    - Hat sich der Schreiberling nur den Protagonisten und Antagonisten gewidmet, oder hat er sich
    mit allen vorkommenden Personen in seiner Geschichte richtig beschäftigt und sie mit Fleisch,
    Blut und einem eigenen Leben versehen?
    - Werden die Figuren dreidimensional, facettenreich und gut vorstellbar gezeigt und nicht bloß
    einfach beschrieben?
    - Haben sie ein Privat- und ein Arbeitsleben, vielleicht ein turbulentes Familienleben?
    - Kann man die positiven und negativen Seiten der Personen nachvollziehen und
    charakterisieren sie sich durch ihre Handlungen und ihre Gespräche?
    - Kann man sich als Leser mit ihnen identifizieren und sich in sie hineinfühlen?
    - Passen die Charaktereigenschaften zur Figur und zu ihrer Rolle und wirken sie glaubwürdig?
    - Und – machen sie im Lauf der Geschichte durch ihre Erfahrungen einen Wandel durch und /oder wachsen sie über sich hinaus?
    - Kurz – sind sie lebendig oder sind sie nur blasse 0-8-15 Abziehbilder?


    Cover, Bilder, Zeichnungen, Gestaltung
    Wenn die Rezensionsbücher in gedruckter Form angekommen sind, ist auch die Buchaufmachung ein großes Thema.
    - Passt die grafische Covergestaltung zum Titel? Passt der Titel zur Geschichte?
    - Und wie sieht es mit dem Rückseitentext aus? Ist er informativ, neugierig machend und
    umfasst er die Hauptaussage, den Inhalt, die „Essenz“ des Buches?
    - Welche Formatierung wurde gewählt? Gut lesbar, mit einer angenehmen Schriftgröße?
    - Wie schaut es mit dem Inhaltsverzeichnis aus? Gibt es eines und wenn ja, wie ist es aufgebaut? - Gibt es Zeichnungen, Illustrationen oder Fotos im Buch?
    - Ist das Buch in Kapitel aufgeteilt und wenn ja - sind diese nummeriert, mit einem Sticker oder
    mit einer zusammenfassenden Überschrift versehen? Vielleicht sind sie ja durch eine
    Zeichnung, eine Abbildung oder eine Leerseite voneinander abgegrenzt. Wie lange sind die
    Kapitel und fördern sie die Übersichtlichkeit des Buches oder hemmen sie sie.
    - Wie viele Seiten umfasst die Publikation, wie ist sie aufgemacht, aus wie vielen Kapiteln setzt
    sie sich am Ende zusammen?
    - Gibt es Fußnoten?
    - Ein Glossar, Erklärungen, Anmerkungen, Buchempfehlungen, ein Register….
    - Ist es ein Taschenbuch oder ein gebundenes Werk - geklebt oder gebunden, wurde qualitativ
    hochwertiges Papier verwendet und wie ist der Gesamteindruck auf den Leser.


    Der Anhang
    Im Anhang finden sich oftmals eine Danksagung, die Autorenvita, vor allem bei Sach/Fachbüchern oder Ratgebern immer auch ein Stichwort- und oft auch ein Bilderverzeichnis, eine Bibliografie oder auch Buchempfehlungen.
    Auch hier schaut man als Rezensent hin, ob es übersichtlich und ansprechend angefügt wurde.
    Bei jedem Buch ist natürlich auch die Autorenvita ein Thema.
    - Spricht die Vita des/der Autoren die Leser an?
    - Haben mehrere Personen an dem Buch gearbeitet und steht vielleicht von allen eine aussagekräftige Kurzvita mit Bild zur Verfügung.
    Wie überall ist natürlich ein Farbbild und ein mehrzeiliger Text wesentlich ansprechender als zwei kurze Sätze ohne Bild.


    Fazit und Bewertung
    Dann folgt das kurze Fazit – eine Kurzeinschätzung des Werkes mit knapper Begründung, bevor es an die Punkte/Sterneverteilung geht, die so manches Mal Kopfzerbrechen bereitet.
    Denn oft grübelt man recht lange, wie viele Sterne/Punkte/Buchumschläge man vergeben soll.

    - Wie soll man z. B. ein Buch fair bewerten, das rein technisch perfekt nach Plan gestaltet wurde,
    dem aber der Funke gänzlich fehlt, der auf den Leser überspringen soll und es lebendig macht?
    - Oder - es hapert am Plot und am logischen/glaubwürdigen Ablauf, aber die Figuren sind so
    genial gestaltet, dass erst am Ende die Ungereimtheiten richtig ins Auge fallen.
    - Vielleicht ist es ja auch umgekehrt, und die Storyline ist genial, aber die Hauptfiguren sind
    einfach nicht passend, ansprechend oder eventuell richtiggehend unsympathisch. Vielleicht
    übernimmt aber auch kurzerhand eine Nebenfigur nach und nach den Part einer Hauptfigur.
    - Oder die Geschichte zieht sich und zieht sich wie ein Kaugummi, weil Nebensächlichkeiten, die
    nicht relevant sind, so übergenau beschrieben werden, dass es nur mehr nervt.
    - Möglicherweise wurde eine völlig neue Welt mit eigenen Gesetzen und Limits von Flora, Fauna
    und unterschiedlichen Figuren kreiert, an die sich der Autor aber nur nach Lust und Laune hält.

    Bei Sachbüchern oder Ratgebern ist die Bewertung meistens etwas einfacher…

    Warum man als Autor eine Rezension nicht persönlich nehmen sollte
    Egal welche Idee, welches Genre oder Thema behandelt wird, ein Buch ist meistens eine ganz besondere Herzensangelegenheit des Autors und es steckt viel Begeisterung, Mühe und Arbeit dahinter, bis man das gedruckte Werk in den Händen hält.
    Als Leser oder manchmal auch als Rezensent, schiebt sich das nicht immer gleich als wichtiges Kriterium ganz vorne ins Bewusstsein.
    Die Rezensenten sind üblicherweise begeisterte Leser, die sich auf bestimmte Genres einlassen und ein Buch nach ihren ganz persönlichen Maßstäben und Geschmack bewerten. Und diese Geschmäcker sind nun einmal ganz verschieden. Darum wird es bei den Rezensionen auch immer eine ganze Bandbreite an unterschiedlichen Beurteilungen der Leser geben, die den Roman, das Comic, Kinder- oder Sachbuch, nach ihren ganz persönlichen Kriterien bewerten.

    Ist die Kritik konstruktiv und gut begründet, sollte man sie vielleicht als zusätzliche Anregung nehmen, um die nächsten Texte auf die gut nachvollziehbaren oder auch auf bisher eher unbeachtete Kriterien kurz zu überprüfen. Denn als Autor, Texter usw. ist man unbewusst manchmal etwas „Betriebsblind“ und es kann enorm hilfreich und nützlich sein, eine kritische Stimme anzuhören und gewisse Textpassagen unter einem anderen Blickwinkel "neu" zu lesen.

    Natürlich ist nicht jede Kritik hilfreich und nicht jede Buchbesprechung sollte man sich zu Herzen nehmen. Es gibt - wie überall - "berufsmäßige Meckerer" unverbesserliche Besserwisser und auch Neider.
    VOR ALLEM: Die besten Geschichten und Abenteuer sind ohnehin immer jene, die der Autor geschrieben hat, weil er sie selber lesen wollte und es diese Story bisher leider noch nicht gegeben hat.


    Und um das alte Sprichwort zu bemühen – Jedem immer Recht getan, ist eine Kunst, die niemand kann …
  • Aidan
    Moderator
    • 03.09.2023
    • 249

    #2
    Danke für den Thread! Ich finde es sehr aufschlussreich, was du da schreibst. Klar sind viele Dinge an sich klar, aber es nochmal so auf den Punkt zusammengetragen zu lesen, ist nochmal sehr interessant. Ich habe einiges an Respekt davor eines Tages Rezensionen zu bekommen und sie dann zu lesen. Aber ich glaube, deine Herangehensweise kann sehr hilfreich sein, um sich selber zu verbessern und die eigenen Schwächen zu erkennen - und daran zu arbeiten. Ich glaube, ich würde eines Tages gerne mal eine solche Rückmeldung von dir bekommen. (Ob ich mir dann wünsche, dass sie veröffentlicht wird, werden wir dann sehen... *hust*)

    Edit: Hättest du eventuell Lust, auch ab und an für die Autoren hier Testleser zu sein? Also vor der Veröffentlichung mit deinem kritischen und analytischen Blick das Manuskript nochmal auseinander zu nehmen, damit Schwächen noch ausgebügelt werden können?
    Zuletzt geändert von Aidan; 25.09.2023, 17:18.

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    • Araluen
      Moderator
      • 04.09.2023
      • 226

      #3
      Vielen Dank für den Thread und die Einblicke
      vor allem deinen Absatz darüber, warum man sich als Autor Rezensionen nicht zu Herzen nehmen sollte, finde ich sehr wertvoll.

      Kommentar

      • Niam
        Redakteur
        • 05.09.2023
        • 81

        #4
        Meine Lieben, es freut mich, dass ich hier etwas beitragen und einen kleinen Einblick in das Thema geben konnte.
        Zum Thema "testlesen" würde ich vorschlagen, unbedingt vorher mit Rhagrim zu plaudern und erst danach zu entscheiden, ob sich das jemand wirklich antun will. 😅😉
        Denn für mich - das gebe ich ehrlich zu - ist es ein großer Unterschied, ob ich testlese (da bin ich viel kritischer und genauer) oder rezensiere (da ist das Kind ja schon in den Brunnen gefallen, da nützt das penible "auseinandernehmen" auch nix mehr und außerdem würde die Rezi so viel zu lang werden🙄).

        Kommentar

        • Aidan
          Moderator
          • 03.09.2023
          • 249

          #5
          Sprich: wenn du Testleserin bist, braucht man eine große Packung Taschentücher, eine Woche Auszeit, um das Manuskript wieder ansehen zu können, und die Bereitschaft, viel zu arbeiten, um das Ganze besser zu machen? Klingt danach, als wäre es hart, aber hilfreich, wenn man es sich zutraut.

          Mal schauen, ob ich mich das eines Tages trauen werde...

          Kommentar

          • Araluen
            Moderator
            • 04.09.2023
            • 226

            #6
            Ah da sind wir ja auf einer Wellenlänge Niam. Wenn ich Beta-Lese braucht der Autor auch ein ziemlich dickes Fell, weil ich meist den Plot fachmännisch durch den Fleischwolf dreh, damit am Ende etwas viel schöneres dabei herauskommt. Aber du hast recht. Testlesen und Rezensieren sind wirklich zwei Paar Schuhe.

            Kommentar

            • Rhagrim
              Moderator
              • 03.09.2023
              • 388
              • Staring down the Abyss

              #7
              Zitat von Niam
              Zum Thema "testlesen" würde ich vorschlagen, unbedingt vorher mit Rhagrim zu plaudern und erst danach zu entscheiden, ob sich das jemand wirklich antun will.
              Dann gebe ich hiermit meine Einschätzung ab: Niam ist halt ehrlich. Und direkt. Ihr Feedback ist extrem wertvoll und kann einen sehr weiterbringen, wenn man es annehmen kann und dementsprechend kritikfähig ist.
              Ich war früher weder sonderlich kritikfähig, noch sonderlich gut und die Fähigkeit, zu differenzieren zwischen "Das, was du gemacht hast, ist Mist" und "Du bist Mist", hatte ich auch noch nicht entwickelt, sodass jegliche Kritik an meinem "Schreibbaby" für mich gleichbedeutend war mit persönlichem Versagen. Also hat mein Teenage selbst die ersten Entwürfe meines Projekts regelmäßig frustriert für ein paar Monate in die Ecke geschmissen und sich in der Zeit in Selbsmitleid gewälzt, nur um am Ende jedes mal aufs Neue zu dem Schluss zu kommen, 1) sie hatte Recht und 2) dass diese Geschichte mich trotzdem nicht loslassen wird und ich sie - komme, was da wolle - schreiben will - und wenn ich schlecht bin, ich eben so lange üben und an meinen Fähigkeiten arbeiten muss, bis ich gut genug bin, um ihr gerecht zu werden.

              Ich behaupte mal "Kritikfähigkeit" ist jetzt nicht unbedingt verbreitet und ich behaupte mal, dass viele dadurch erstmal persönlich getroffen sind, wenn sie ehrliche und nicht in Watte verpackte Kritik bekommen. Also ja - Kritikfähigkeit würde ich voraussetzen. Aber als allgemeine Fähigkeit, und nicht nur auf Niams Feedback bezogen, weil man im Leben halt manchmal Kritik zu hören bekommen wird.

              Mittlerweile, wo ich alt genug bin, um ehrliches Feedback schätzen und richtig einsortieren zu können, bin ich extrem dankbar für meine damaligen "Lehrjahre" und die tausend verworfenen Versionen, weil sie in mir den nötigen Ehrgeiz und die nötige Entschlossenheit geweckt haben, mich dorthin zu arbeiten, wo ich jetzt bin. Ich nehm Kritik zwar teilweise immer noch persönlich und meine Fehler nicht als Fehler, sondern als grundsätzlich charakterliches Versagen wahr, aber ich weiß, dass ich das tue und es *mein* Problem ist, an dem ich arbeiten muss, weswegen es mir nicht mehr den Boden unter den Füßen wegzieht. Und ohne Kritik, die mich damit konfrontiert, kann ich nicht dran arbeiten.

              Dafür ist jedes ehrlich gemeinte "Das ist wirklich gut!" auch einfach...
              Zuletzt geändert von Rhagrim; 26.09.2023, 07:48.
              “No tree can grow to Heaven unless it’s roots reach down to Hell.”
              - C.G. Jung

              Kommentar

              • Yamuri
                Kaffeejunkie
                • 04.09.2023
                • 337

                #8
                Das finde ich total super Niam, dass du auch testliest und offenbar auf Lektoratsniveau, wenn ich das jetzt einfach mal so behaupten darf.

                @Araluen: Also deine Kommentare und Hinweise waren immer super hilfreich.
                @Rhagrim: Deine bisher auch.

                Das mit der Kritikfähigkeit, ja, das lernen wir halt auch nicht in der Schule. Vielmehr lernen wir in der Schule leider oft - Fehler sind mit Gesichtsverlust verbunden. Der Gesichtsverlust entsteht dadurch, dass unsere Fehler öffentlich werden. Nicht nur wir werden darauf aufmerksam gemacht, sondern auch andere bekommen es mit und je nachdem ob man gemeine Kinder in der Klasse hat oder nicht, erlebt man dann Spot, Häme und eben Gesichtsverlust. Diesen Schmerz trägt man ins Erwachsenenalter mit und daher nimmt man dann Kritik schnell persönlich, weil das verletzte Kind in einem selbst dadurch getriggert wird. Um dem Spot von Außen vorzubeugen, drückt man sich dann selbst nieder und verachtet sich für den Fehler. Die Psyche erlebt das Ganze dann als Angriff, der bekämpft werden muss und je nachdem reagiert man mit Zorn, Wut und Ablehnung. Da laufen komplexe psychische Mechanismen ab. Zumindest bei mir ist eine heftige Reaktion auf Kritik meist eine Traumaresponse, weil etwas getriggert wurde aus meiner Schulzeit.

                Was mir hilft ist, erstmal zulassen, wenn negative Gefühle hochkommen, den Schmerz annehmen, die Ablehnung und dann Abstand nehmen. Einfach Computer zu, allein sein, zur Ruhe kommen. Erkennen, dass ich eigentlich eine Traumaresponse erlebt habe und die Gefühle mehr mit der Vergangenheit zu tun haben, als mit der Gegenwart. Erkennen, dass nichts Schlimmes passiert, ich auch nicht ausgelacht werde. Erkennen, dass niemand davon weiß. Dann bin ich meist schnell dankbar, weil die Betaleser mich vor einem echten Gesichtsverlust bewahrt haben.

                Kommentar

                • Niam
                  Redakteur
                  • 05.09.2023
                  • 81

                  #9
                  Kritikfähigkeit ist auf jeden Fall wichtig 😏.

                  ABER! Vor allem sollte die Erkenntnis nicht zu kurz kommen, dass niemand perfekt ist, auch bekannte Autoren das, was sie ausdrücken wollen nicht immer exakt so an den Leser bringen, wie sie es sich erhoffen und auch das allerbeste Buch und die tollste Story immer noch ein bisschen besser "feingeschliffen" werden kann.
                  Außerdem geht es um DEINE Geschichte und die muss vor allem dir selber gefallen!

                  Die deutsche Sprache ist enorm reich an Synonymwörtern und Ausdrücken, die eine ähnliche - aber nicht exakt dieselbe Bedeutung haben. Für seine eigene Geschichte also das optimalste Wort, die passendste Aussage und die beste Beschreibung zu finden, kann ganz schön herausfordernd sein. Es kennt vermutlich jeder von euch das Gefühl, wenn man ein Wort sucht.

                  Aber nicht irgendeines, sondern "DAS WORT"!

                  Man zerbricht sich den Kopf, schlägt nach, nervt seine Familie oder Freunde - aber dieses eine Wort, dieser eine Satz, dieser kurze Absatz oder Textabschnitt der genau das ausdrückt, das man sagen will und der die Person/Szene/Situation exakt so zeigt, wie man sie im Kopf hat - liegt zwar auf der Zunge oder vibriert in den Fingern über den Tasten - flutscht aber gemeinerweise irgendwie immer weg, gerade wenn man es aussprechen oder niederschreiben möchte. Und dann - schreibt man halt das Zweitbeste nieder.
                  Hier sind kritische Vorableser sehr hilfreich, denn sie legen oft den Finger genau auf die Textpassage, bei der man selber das Gefühl hat, dass irgendetwas nicht ganz rund ist und bieten im besten Fall Alternativwörter, oder -Beschreibungen an, von denen dann vielleicht genau das dabei ist, über das man sich bisher vergebens den Kopf zerbrochen hat.

                  Und ein Tipp nur so am Rande - Habt ihr eigentlich schon einmal ganz entspannt und vorurteilsfrei einen vergessenen oder verworfenen Text aus euren Anfangszeiten hervorgekramt und reingelesen?

                  Ihr werdet euch wundern, wie oft man sich da plötzlich irritiert fragt: "Habe ich das damals wirklich geschrieben? Hey! Das ist doch echt cool, was ich da vor Jahren fabriziert habe! Also wenn ich da oder dort noch etwas rumschleife, vielleicht eine Kleinigkeit einfüge oder weglasse, dann klingt das echt spannend!" - Und wer weiß? Vielleicht erfährt auf diese Weise ein damals verworfenes Schriftstück oder eine vage skizzierte Idee mit dem inzwischen erworbenen Know-How eine großartige Neuauflage.
                  Glaubt mir - das gibt einen echten Motivationsschub! Kann ich nur empfehlen! 😉

                  Kommentar

                  • Michael W
                    Kaffeetrinker
                    • 04.09.2023
                    • 66

                    #10
                    Ich finde es gut, Niam, dass du so detailreich auflistest, was dir persönlich bei einer Buchbesprechung wichtig ist. Die Schwerpunkte sind ja bei jeder Person unterschiedlich. Auch, wenn man so fair wie möglich beurteilen möchte und die Kriterien so breit wie möglich auffächert, ist es immer noch eine persönliche Einschätzung.

                    In einem anderen Forum (mit dem Fokus auf Kurzgeschichten, das lässt sich auf Bücher aber genauso anwenden) lese ich oft professionelle und informative Kritiken, in denen konkrete Verbesserungsvorschläge stehen. Und die können in ganz andere Richtungen gehen. Dann muss man sich manchmal entscheiden, ob man etwa die Wirkung der Atmosphäre oder die der Handlung im Text ausbauen möchte. Dazu hilft es, wenn man schon genau weiß, was man möchte.
                    Als ich allmählich angefangen habe, für ein fremdes Publikum zu schreiben, hatte ich noch die unausgesprochene Annahme im Kopf, dass es am besten ist, wenn man es möglichst vielen Leuten recht macht. Das wird aber schon schwierig, wenn man nur auf die Kritiken von zwei Leuten eingehen will. Ich musste erst lernen, mehr Vertrauen in meine eigenen Ziele beim Schreiben zu haben. Ansonsten macht man sich selbst wegen der Kritiken fertig. Die Gefahr ist denke ich besonders dann hoch, wenn es ein Text mit ungewöhnlichem Fokus ist.

                    Jeden individuellen Kritikpunkt kann man auf folgende Punkte durchleuchten:
                    • Warum ist der angesprochene Aspekt so, wie er ist? Also warum ist es zum Beispiel ein schwarzer Regenschirm? Ist das Detail willkürlich entstanden oder steckt eine Bedeutung dahinter?
                    • Ist der Kritikpunkt sinnvoll? Jemand, der mit anderen Erwartungen an den Text geht, wird auch dementsprechend andere Punkte kritisieren. Das heißt nicht, dass man diese Punkte alle ignorieren kann, aber es ist eine wichtige Info, wenn jemand sagt "Ich habe eigentlich viel mehr Fantasy erwartet".
                      Sogar Leute, die nicht einmal zur Zielgruppe gehören, lassen manchmal eine schlechte Kritik da. Ich hätte dafür keine Energie, aber manchen Leuten geht es wohl vorwiegend darum, Recht zu haben.
                    • Erfüllt etwas nicht die Lese-Erwartung? Das kann daran liegen, dass Vertrautes generell besser ankommt. Aber nur, weil etwas anders oder ungewohnt ist, muss man nicht gleich darauf verzichten. Es ist abzuwägen, ob es sich lohnt, das Risiko einzugehen.
                    • Es kann passieren, dass nicht der Text selbst kritisiert wird, sondern die eigene Vorstellung davon. Wenn jemand behauptet: "Ich wäre an der Stelle einfach hinübergesprungen!", aber die besagte Entfernung viel zu groß ist, dann kann man abwägen, ob es sinnvoll ist, diese Info im Text mehr hervorzuheben.
                    Die Liste kann um viele Details und Sonderfälle ergänzt werden, aber ich höre hier lieber auf.

                    Kommentar

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